Michael Schweßinger im Interview: Lindenau oder Wo die Verzweiflung wohnt

Leipziger Internet Zeitung Montag, 20. August 2007

Volly Tanner spricht mit dem Leipziger Schriftsteller und Studenten der Ethnologie und Afrikanistik Michael Schweßinger (29) über seinen Erfolg mit „In darkest Leipzig“, über Brot und Spiele und käserestevolle Pizzaschachteln.

Hallo, Micha. In letzter Zeit redet alles über Dein Buch „In darkest Leipzig – über die seltsamen Sitten und Gebräuche der Lindenauer“. Was ist denn, auch für die Leser aus anderen Kulturkreisen, ein Lindenauer

Hallo Volly. Ich begann vor eineinhalb Jahren mit meiner ethnologischen Feldforschung. Dabei stieß ich auf die verschiedenen faszinierenden Lindenauer Volksgruppen, die weite Teile des Leipziger Westens besiedeln. In der Wissenschaft herrscht mittlerweile Einigkeit darüber, dass es bei den Lindenauern einen grundsätzlichen Unterschied zwischen sesshaften und nomadisch agierenden Clans gibt. So gesehen müssen wir differenzieren, wenn wir uns mit den Lindenauern beschäftigen. Allgemein lässt sich jedoch sagen: Die Lindenauer siedeln seit nahezu 1000 Jahren an den fruchtbaren Elsterauen. Sie waren in früheren Zeiten für ihre Handwerkskunst und ihren kulturellen Reichtum bekannt. Heute teilen die Lindenauer das traurige Schicksal vieler indigener Völker, die vom Kapitalismus überrollt wurden. Hartz IV, zunehmender Alkoholismus, Perspektivlosigkeit

Dein Buch berichtet ja doch sehr respektvoll, teilweise sogar freundschaftlich blickend auf den emotionalen Bodensatz der Gesellschaft. Wie waren denn bis jetzt die Reaktionen? Gab's Anfeindungen aus dem Poplager?

Von der Seite gab es keine Anfeindungen. Es lacht sich ja leichter, wenn man nicht betroffen ist. Grundsätzlich hab ich eigentlich persönlich nur positive Reaktionen bei meinen Lesungen gespürt. Anders gestaltet sich die Situation in Lindenau. Das Buch kam ja eher so aus dem Underground.

Ich bin ja fast nur auf kleinen Lesebühnen aufgetreten. In den letzen Wochen kam es dann, dass der Buchhandel Interesse zeigte und da erreicht man dann natürlich auch andere Menschen, die nicht so begeistert sind. In einer Lindenauer Buchhandlung wurden heftige Debatten darüber geführt; gerade über die ethnologische Terminologie die ich verwende. Eingeborene, Ethnie, das ganze Programm eben mit dem man "die Wilden" in allen Teilen der Welt kategorisierte. Von daher fühlen sich schon viele Lindenauer mächtig auf dem Schlips getreten, wenn sie mit "den Primitiven" in einem Atemzug genannt werden

Denkst du das ist rassistische Arroganz, die die Hiesigen sich selber über andere Volksgruppen erheben lässt?

Es muss nicht unbedingt rassistisch motiviert sein. Ich glaube es ist ein menschlicher Charakterzug sich von Anderen abzugrenzen und sich dadurch ein wenig besser zu fühlen. Im kulturellen oder sozialen Bereich funktioniert dies nach demselben Schema. Problematisch wird es eben nur, wenn man den Anderen seine Daseinsberechtigung abspricht. Ich finde die Zunahme der sozialen Ausgrenzung innerhalb unserer Gesellschaft ebenso erschreckend wie irgendwelche Menschen, die sich durch ihren Rassismus definieren. Arbeitslosen oder älteren Menschen das Gefühl zu geben, sie wären in unserer Leistungsgesellschaft, die sich nur noch um höhere Effizienz Gedanken macht, nur noch sozialer Ballast und nicht mehr als Mensch wertvoll.

Nun lebst Du jedoch inmitten Deines Studienobjektes, Du betreibst Feldforschung und begibst Dich mitten hinein in den brodelnden Dschungel Lindenaus zwischen Klinkerwäldern und Discountergebirgen. Welcher war der für Dich emotional bewegendste Moment während Deiner Arbeit am Objekt?

Mir fällt es schwer diese Erlebnisse emotional zu werten. Das sind einfach ganz viele alltägliche Tragödien. Eines dieser Dramen spielte sich im Supermarkt ab. Ein Vater der mit seiner Tochter händchenhaltend durch den Supermarkt geht, um sich eine Flasche Schnaps zu kaufen. Die Tochter sieht die Eistruhe und will ein Eis. Du siehst, dass er sie liebt und das er ihr gerne das Eis kaufen würde, aber dass sein Geld nicht für Alkohol und Eis reicht. Diesen Moment zu beobachten, wie er den inneren Kampf zwischen Alk und Tochter austrägt und man weiß, dass der Alk gewinnen wird, da könnte man heulen. Dann die Menschen, die alleine in irgendwelchen Hauseingängen sitzen und mit leeren Augen vor sich hinstarren und trinken. Ich weiß nicht, da gehen so viele Dinge falsch.

Als Ethnologe ist es ja Deine Aufgabe, zu beobachten, aufzubewahren und zu vergleichen. Hast Du trotzdem irgendeine Idee, wie diese Verwerfungen zu bekämpfen sein können? Was kann man tun? Oder macht der Zustand nur noch hilflos?

Foto: Nora BlumbergIch glaube es fängt im Kleinen damit an, dass man diese Probleme wahrnimmt. Ich versuche dies literarisch zu verarbeiten und vielleicht den ein oder anderen zum Nachdenken anregen. Was die großen Veränderungen betrifft, da hab ich in der Tat nicht die großen Hoffnungen. Nicht weil es nicht möglich wäre, sondern weil der Wille dazu fehlt. Jeder redet vom Aufschwung, aber wenn das der Aufschwung ist, was kommt danach? Ich habe nicht das Gefühl, dass es den Menschen am unteren Rand der Gesellschaft besser geht als vorher. Im Gegenteil, immer mehr Menschen sehe ich vor die Hunde gehen. Aber eine soziale Gesellschaft sollte sich immer daran messen, wie es ihren schlechtestgestellten Mitgliedern geht, nicht wie viele Millionen irgendwelche Konzerne einfahren.

Zurück zu Deinem Buch, welches ja wirklich zum Erfolg geriet, obwohl die hiesige Presse kaum Notiz davon nahm. Glaubst Du, dass dies auch Teil des Erfolges ist, dass eben die hiesige Presse dich nicht lobhudelnd herumreichte, dass Du weiterhin als einer "von unten" gesehen wirst?

Ja, ich glaube schon, dass die Authentizität Teil des Erfolges ist. Die Basis war ja einfache Mund zu Mund Propaganda. Vielleicht auch, weil es nicht die großen abgehobenen Stories sind, sondern weil sich jeder in diesen Alltagserlebnissen irgendwo wieder findet. Oft kommen Leute nach den Lesungen zu mir und sagen: „So etwas hab ich auch schon erlebt.“ Oder sie erzählen mir Geschichten, die ich wieder für neue Stories verwende. Es hat etwas von Oratur, also mündlicher Überlieferung. Manchmal setze ich mich einfach in die Absturzkneipen, höre den Menschen zu und schreibe über sie oder über das, was sie mir erzählen. Und die haben verdammt viel zu erzählen.

In der derzeit erfolgreichen Literatur bist Du ja eine ziemliche Ausnahme. Du respektierst die Menschen, Du hackst nicht zynisch rein und Du hörst zu. Ist es nicht ein einsamer Weg, den Du da gehst? Du könntest doch auch den Weg der schicken, jungen Popliteraten gehen, ein bisschen über Markenklamotten schreiben und würdest überall Dein Bier kostenlos bekommen. Was treibt Dich an, Micha?

Naja, mein Bier bekomme ich meistens auch kostenlos. Ich muss sagen, ich mach mir eigentlich keine Gedanken darüber, was gerade angesagt ist. Das Gefühl muss stimmen. Grundsätzlich würde ich sagen, mich faszinieren einfach die Ränder einer Gesellschaft. Bei "In darkest Leipzig" waren es die sozialen Ränder, in meinen Buch "Gedanken an die Dämmerung", das ich davor geschrieben habe, war es der erotische Randbereich des Sadomasochismus. So gesehen speist sich mein Antrieb vielleicht einfach aus der Vorliebe, Grenzen zu überschreiten.

Gibt es denn schon neue Projekte, an denen Du arbeitest?

Ja, die gibt es. Ich arbeite gerade an meinem neuen Buch "Von Seemännern und anderen Gestrandeten", welches Anfang Dezember erscheinen wird. Es geht darin wieder um den Leipziger Westen, allerdings beschäftigen ich mich dabei mehr mit den Menschen der Straßen und Kneipen und weniger mit den sesshaften Lindenauern. Irgendwie ist das Buch sehr viel nachdenklicher geworden als "In darkest Leipzig", aber vermutlich muss das so sein, wenn man sich die Realität vor Ort bewusst macht. Dann gibt es natürlich noch jede Menge anderer Stories an denen ich gerade schreibe. In einigen berichte ich über meine skurrilen Erlebnisse als Tagelöhner. Als Student bekommt man ja die freakigsten Jobs angeboten. Reinigung im Atomkraftwerk, Baumfäller auf Friedhöfen, Sklavenarbeit auf Baustellen, Inventuren in staubigen Ramschläden. Das wird dann wieder sehr humorvoll.

Du arbeitest ja auch mit dem Fotokünstler Corwin zusammen, wie seid ihr beiden denn zusammengekommen?

Das war wirklich ein Glücksfall. Ich hab mir Corwins Fotoausstellung "Leipzig verfällt" angesehen und war sehr begeistert von den Bildern. Seine Fotografien thematisieren, wie der Titel schon andeutet, ein Leipzig jenseits der Hochglanzpassagen. Der Bildband dazu erscheint in wenigen Tagen bei Edition PaperOne. Ich habe ihn dann kontaktiert und gefragt, ob er Lust hätte, das Cover zu "In darkest Leipzig" zu machen. Daraus entwickelte sich unsere Freundschaft und weitere Zusammenarbeit. Er ist auch für das Cover meines neuen Buches verantwortlich.

Das heißt ja, dass Du neben Deinen ethnologischen Studien sozusagen ein Hans Dampf in allen Gassen bist. Nun bist Du auch noch der Vorsitzende eines Heimatvereins geworden. Eines Heimatvereins???? Was ist denn das für eine Geschichte?

Der Heimatverein Lindenau, das war so eine fixe Idee. Wir haben uns gedacht, wenn schon nichts passiert, dann müssen wir das eben selbst in die Hand nehmen. Das mag etwas strange klingen, ist es aber nicht. Heimat hat ja nichts mit Nationalismus zu tun. Ich denke da eher wie die Römer "Ubi bene, ibi patria". Also da wo es mir gut geht, da fühle ich mich zu Hause. Wir wollen damit eben der Lethargie entgegenwirken und aufzeigen, dass eben etwas möglich ist, wenn man nur bereit ist mal den Arsch vom Fernseher wegzubewegen. Die Menschen für ihr Umfeld sensibilisieren. Auch wenn man "In darkest Leipzig" vielleicht auch anders lesen kann. Ich mag dieses Viertel und deshalb auch die Initiative. Wir planen gerade ein Literaturfestival für 2008, den Lindenauer Literatursommer. Unsere Intention ist es Menschen für Kultur zu begeistern, an denen das Kulturprogramm normalerweise vorbeiläuft.

Daneben arbeiten wir noch an Schreibprojekten in Lindenauer Schulen. Ich glaube es ist sehr wichtig, den jungen Menschen Alternativen aufzuzeigen, gerade in einem Viertel wie Lindenau, wo die Verzweiflung heimisch ist.

Mit dem "Arsch vom Fernseher wegbekommen..." sprichst Du mir und vielen Lesern aus dem Herzen. Denkst Du das sich in unserem Kulturkreis schon kommunikativ unterschiedliche Klassen entwickelt haben - die mit und die bewusst ohne Fernsehmissbrauch?

Mir fällt auf, dass die meisten Menschen, die kreativ unterwegs sind, auf das Medium Fernsehen verzichten, weil es eben eine absolut passive Beschäftigung ist. Wenn ich manchmal schaue, dann weiß ich am nächsten Tag meistens nicht mehr was ich angesehen habe. Das finde ich dann sehr erschreckend. Hartz IV und Fernseher, das hat etwas von Brot und Spiele. Eine gute Kombination um die Menschen ruhig zu stellen.

Meinst Du, es gibt eine Strategie "Brot und Spiele", dass es Entscheider gibt, die bewusst Menschen ruhig stellen wollen?

Wenn man in der Geschichte in die römische Kaiserzeit zurückgeht, also zu "panem et circenses" dann fällt die Ähnlichkeit zur Gegenwart auf. Ein großes verarmtes Proletariat und eine kleine Kaste von Ultrareichen, die an den Schalthebeln der Macht fungierten und das Volk durch Zirkusspiele und kostenlose Verköstigung ruhig stellten. Leider funktioniert das auch heute.

Ja, aber bewusst oder unbewusst, das ist doch hier die Frage!

Das sind ja immer zwei Seiten. Da gibt es viele Menschen, die ihre Freiheit gerne aufgeben und dann gibt es die, die das natürlich fördern. Es läuft ja nicht so, dass auf der einen Seite die Bösen stehen und auf der anderen die Guten. Jeder könnte ja auch aktiv werden und gegen die eigene Narkotisierung ankämpfen. Aber es scheint mir eher, als wenn die Masse mit diesem Zustand ganz gut leben könnte. Freiwillige Versklavung.

Deshalb finde ich auch das Szenario von Huxley in "Brave New World" besser als das Orwellsche 1984. Jeder fühlt sich doch sicherer, obwohl Persönlichkeitsrechte mehr und mehr eingeschränkt werden. Es ist ja nicht so, dass Überwachung mit Gewalt durchgesetzt werden muss. Es wird gewünscht.

Sehr differenziert, Kollege Schweßinger - Ihre Antwort. Möchtest Du unseren Lesern noch etwas auf den Weg mitgeben? Irgendeine ewige Weisheit, entstanden aus dem Kuddelmuddel aus Literatur, Leben und Ethnologie?

Vielleicht ein Tipp an verarmte Literaten. Eine alte Pizzaschachtel kann ein hervorragender Käselieferant sein.

Danke, Micha und natürlich weiterhin viel Erfolg beim Suchen im Sumpf!

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