Er lauscht, wenn die Schamanen trommeln

Ein Forscher mit dem Blick für sinnliche Qualitäten: Michael Oppitz, der abtretende Direktor des Völkerkundemuseums, verabschiedet sich mit zwei herausragenden Ausstellungen.

«Whump!» Michael Oppitz, der Direktor des Zürcher Völkerkundemuseums, lässt ein schweres, handgebundenes Buch vor dem Besucher auf den Tisch klatschen und zeigt auf weitere Bände im Bücherregal: «Die gesamten Geschichten und Gesänge eines Schamanen. Das entspricht in der Menge dem, was die ‹Ilias› und die Hälfte der ‹Odyssee› umfasst. Das hat der alles im Kopf.» Und wie die altgriechischen Epen sind auch diese von einem durch und durch eleganten Versmass gegürtet – bemerkenswert für ein Bergvolk, das die Schrift nicht kennt. Acht Jahre lang hat der Ethnologe bei den Magar in Nordnepal geforscht, notiert, gefilmt, fotografiert und kombiniert. Vor ihm war keiner da. Nach ihm braucht keiner mehr hin: Die gesamte orale Tradition der Magar ist für die Nachwelt bewahrt.

«Das Wesentliche ist für mich die Beobachtung der beobachtbaren Welt», sagt Oppitz und zurrt seinen Schal etwas fester. Andere setzten sich aufs hohe Theorieross – «das macht keine schmutzigen Fingernägel» –, er ging den umgekehrten Weg, nämlich ins Feld. Erstmals als 22-Jähriger zu den Sherpa, deren Clanstruktur er erforschte. Dabei merkte er, dass für das Verständnis jener Gesellschaften ein potentes Theoriewerkzeug fehlte. Er schmiedete es sich selber zurecht, aufbauend auf der damals attraktiven strukturalen Anthropologie («Notwendige Beziehungen», 1975). Die Skepsis aber gegenüber allen institutionalisierten Formen des Wissens blieb: «Es ist für einen Anthropologen Zeitverschwendung, eine Universität zu besuchen, es sei denn, man trifft dort aussergewöhnliche Leute.»

Joseph Beuys und die Schamanen

Diese suchte und fand Oppitz in jüngeren Jahren eher unter Künstlern als unter Wissenschaftlern. «Das waren Leute, die ein Feuer hatten, irgendwo hinzukommen, irgendwas zu finden, zu schaffen, Gegenwelten zu entdecken.» Kein Wunder, interessierten sich umgekehrt manche Künstler aus dem Kölner Umkreis, wo Oppitz studierte und später wirkte, brennend für die Geschichten des Ethnologen aus den hintersten Winkeln der Welt. Besonders einer, der selbst ernannte Schamane Joseph Beuys, war von Oppitz’ Dokumentarfilm «Schamanen im blinden Land» (1980) angetan. Nachdem er die verschiedenen Heilséancen gesehen hatte, sagte Beuys: «Die haben ja buchstäblich alles von mir geklaut.» «Die offenherzige Megalomanie verstand ich als ironischen Umkehrwitz», sagt Oppitz.

Der berühmt gewordene Film zeigt die Arbeitsweise lokaler Heiler in vorher unbekannter Exaktheit und in einer epischen Länge von 223 Minuten. Eine Zumutung? Oppitz hält «nichts von vorfabrizierten Formaten, das ist konventioneller Unsinn». Mit seiner Radikalität und Unbestechlichkeit scheuchte er Akademiker und Publikum immer wieder auf. Wo sich andernorts Museen unter Quotendruck dem populistischen Sog ergaben und Blockbuster produzierten, hielt Oppitz eisern an der Grundidee des Museums als Ort und Schaufenster der Forschung fest. Das Völkerkundemuseum als Teil der Universität Zürich bot ihm dazu optimale Bedingungen. Der Preis dafür: Es steht in der Publikumsgunst deutlich tiefer als das Museum Rietberg, das ethnografische Artefakte als Kunst zeigt.

Als provokative Pose verstanden wurde auch Oppitz’ Lust am Bild. Er gehörte zum Stosstrupp derjenigen, die das Primat des Wortes in der Wissenschaft aufweichten und Bilder in den Rang hochgradiger wissenschaftlicher Information erhoben – nicht ohne Instrumente zu deren Interpretation bereit zu stellen. Ausserdem fördert er Film und Fotografie als eigenständiges und gleichberechtigtes wissenschaftliches Ausdrucksmittel. Konkret heisst das: Studierende können mit einem Film, ergänzt um einen Textband, zum Master oder zum Doktortitel gelangen – eine einzigartige Sache. Manche der so entstandenen Produktionen, «Angry Monk» von Luc Schaedler oder Mehdi Sahebis «Zeit des Abschieds», entwickelten sich nebenbei zu Kino- und Festivalerfolgen.

Die Séance als totale Performance

Dahinter steht das Ringen eines Mannes, das Grunddilemma wissenschaftlichen Arbeitens aufzulösen. Nämlich den (eigenen) rigiden akademischen Ansprüchen zu genügen, ohne die sinnliche Qualität der beobachteten Fakten zu schwächen und damit den Schlüssel zu ihrem Verständnis preiszugeben. Oppitz sagt: «In der Art, wie ein Schamane seine Séance als totale Performance inszeniert, ist er ein grosser Künstler.» Um diese sinnliche Dimension adäquat zu erfassen, brauche es Intuition und Gestaltungskraft. Dafür müsse der Ethnograf sich künstlerischer Mittel bedienen.

Was dies für Michael Oppitz heisst, legt er nun sinnfällig in einer Doppelausstellung dar. Sie versteht sich als eine eigentliche Blütenlese einer aussergewöhnlich produktiven und eigensinnigen Forschervita, die es in ihrem Reichtum noch zu erschliessen gilt. Denn im Januar tritt er altersbedingt zurück – in den akademischen Unruhestand.

http://www.tagesanzeiger.ch/dyn/news/kunst/809387.html