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Auf dem Markt symbolischer Güter: Der Soziologe Pierre Bourdieu über «männliche Herrschaft»

Ute Frevert, NZZ, 12.5.05

Pierre Bourdieu war ein soziologischer Grossmeister. Mit grosser Energie und systematischem Spürsinn hat er bis zu seinem Tod vor drei Jahren ein Forschungsprogramm verfolgt, das ihn von den Ehrbegriffen nordafrikanischer Berberstämme zu den Distinktionsstrategien französischer Oberschichten führte. Es ging ihm dabei stets darum, im Alltagshandeln der Menschen Strukturen und Regeln aufzufinden, die dieses Handeln bestimmten - er war auf der Suche nach einer «Theorie der Praxis».

Welche Logik steuert das soziale Verhalten, mit welchen Strategien schaffen es soziale Gruppen, ihre Macht (oder Ohnmacht) aufrechtzuerhalten? Wie funktioniert Herrschaft, und warum findet sie bei den Beherrschten so viel Zustimmung? Weshalb machen sich Individuen zu Komplizen von Zwängen, anstatt sich ihnen zu widersetzen?
Entschuldigungen?

Mit diesen Fragen setzt sich auch die 1998 publizierte Studie Bourdieus über die «männliche Herrschaft» auseinander, die soeben in deutscher Übersetzung erschienen ist. In dem schmalen Band fasst der Autor Überlegungen zusammen, die sich teils auf seine eigenen Arbeiten, teils auf die breite, seit den 1970er Jahren entstandene Literatur zur soziologischen Geschlechterforschung stützen. Er beginnt mit einer fast entschuldigenden Vorrede: Das Thema sei «schwierig», doch die «ganze Logik meiner Forschung» habe ihn dazu veranlasst, sich ihm zu stellen. Der Klappentext ist ähnlich defensiv: «Ein Mann beschäftigt sich mit der Ungleichheit der Geschlechter» - allerdings nicht, «um den Feminismus unter männliche Dominanz zu bringen», sondern um männliche Herrschaft als eine besondere Form symbolischer Herrschaft zu charakterisieren. Diese Exkulpation irritiert. Bedarf es der defensiven Geste? Hat irgendjemand Männern verboten, sich mit den geschriebenen und ungeschriebenen Regeln ihrer Herrschaft zu befassen? Ist Feminismus ein weibliches Prärogativ? Und eine diskursive Macht, die einen Grossmeister in Angst und Schrecken versetzt? Müssen wir uns sorgen um die Freiheit des Geistes - sollen wir Bourdieu als mutigen Retter dieser Freiheit feiern? Und steckt nicht in dieser Attitüde ein Stück Machtgebaren?

Schauen wir genauer hin: Was gibt es Neues? Bourdieu kehrt zurück zu den Anfängen, zu seiner Ethnologie der kabylischen Gesellschaft. Hier findet er die Grundformen männlicher Herrschaft und weiblicher Zustimmung. Sie beruhen auf einem System der Unterschiede, in dem der Gegensatz von männlich und weiblich eine zentrale Position einnimmt. Dieser Gegensatz durchzieht alle Bereiche der Gesellschaft: die Arbeitsteilung ebenso wie die Struktur des Raumes und der Zeit. Er ist fest in die soziale Ordnung eingelassen und wird vom mythisch-rituellen System bestätigt und stabilisiert. Die Menschen eignen ihn sich als «Habitus» an, der ihre Wahrnehmung, ihr Denken und Handeln prägt. Dieser Habitus wird inkorporiert und naturalisiert, schreibt sich in die Körper der Individuen ein. Seinen sinnfälligsten Ausdruck findet er in der Sexualbeziehung. Aktivität und Passivität, Dominanz und Unterwerfung werden hier als gleichsam natürliche Praxis inszeniert und akzeptiert. Es ist die Zustimmung der Frauen als Unterworfene, die den Unterscheidungskategorien ihre symbolische Gewalt verleiht, ihre Unentrinnbarkeit.

Woher aber stammen diese Herrschaftsstrukturen, worauf gründet sich der Primat der Männlichkeit? Bourdieu lokalisiert ihn im Markt der symbolischen Güter, also dort, wo «kulturelles Kapital» entsteht und reproduziert wird. Dieses Kapital ist allein Männern zugänglich - was der Autor weiland im ersten Kapitel der «kabylischen Ethnologie» am Beispiel der Ehre und des Ehrgefühls meisterhaft analysiert hat. Frauen können es lediglich erhalten und mehren helfen, sie sind Objekte oder Symbole der Kapitalbildung. Ihr Sein ist ein «Wahrgenommenwerden»: «Sie existieren zuallererst für und durch die Blicke der anderen» - und können sich selber auch nur durch die herrschenden, d. h. männlichen Kategorien wahrnehmen.

Invarianten?

Spätestens hier dämmert der Leserin, dass Bourdieu nicht nur von den Bergbauern Nordafrikas spricht, sondern ebenso die Verhältnisse moderner, differenzierterer Gesellschaften im Auge hat. In der Tat geht er in der Beschreibung der Praktiken, die den Markt symbolischer Güter konstituieren, über seinen ethnologischen Ausgangspunkt immer wieder hinaus und bezieht zeitgenössische Beispiele aus Frankreich, Grossbritannien und den USA ein. Diese Synchronisierung könnte leicht den Eindruck erwecken, er wolle männliche Herrschaftsstrukturen als zeitlos und unveränderlich darstellen. Doch genau dagegen wehrt er sich mit Verve. Vielmehr kennzeichnet er jene Strukturen als «Produkt einer unablässigen (also geschichtlichen) Reproduktionsarbeit, an der einzelne Akteure (darunter die Männer mit den Waffen der physischen und symbolischen Gewalt) und Institutionen, die Familien, die Kirche, die Schule, der Staat, beteiligt sind». Aufgabe von Historikern und Soziologen sei es, diese Arbeit zu rekonstruieren und als «konstante Differenzierungsarbeit» sichtbar zu machen. Die «transhistorischen Invarianten» des Geschlechterverhältnisses, die Konstanz und Permanenz männlicher Herrschaft über die Jahrhunderte hinweg könnten auf diese Weise als konstruiert und strategisch hergestellt offenbar werden.

An dieser Stelle zuckt die Historikerin zusammen. Wer spricht hier mit welcher Autorität? Und mit welchem Zerrbild historischer Geschlechterforschung? Mit erhobenem Zeigefinger belehrt Bourdieu uns, dass die männliche Herrschaft nicht nur im häuslichen Bereich wurzelt, sondern in Instanzen wie Kirche, Schule und Staat - als ob das dem «feministischen Diskurs» verborgen geblieben wäre. Als ob sich eine «Geschichte der Frauen» lediglich mit Hausfrauen und familialer Arbeitsteilung beschäftigt hätte. Als ob sie die Bedeutung staatlicher Politik - von der Rechts- über die Sozial- und Wirtschaftspolitik bis zur Militärpolitik - für die Ausformung von Geschlechterbeziehungen nicht zur Kenntnis genommen hätte. Warum hat Bourdieu diese Studien unterschlagen? Weil sie weniger die «Konstanz und Permanenz» männlicher Herrschaft betonen als deren Variabilität und Veränderbarkeit? Weil sie nicht nur darauf bedacht sind, die Zustimmung der Frauen zu dokumentieren, sondern auch ihre Verweigerung, ihre «Listen der Ohnmacht»?

In der Tat fragt man sich nach der Lektüre, welche Botschaft der Autor als politisch engagierter Intellektueller eigentlich verkünden wollte. Auf weite Strecken liest sich sein Buch wie die Beschreibung eines deterministischen Beziehungsgeflechts, dem sich niemand entziehen kann und unter dem letztlich alle, die Herrschenden (Männer) wie die Beherrschten (Frauen), leiden. Dass dieses Leiden sozial, zeitlich und räumlich sehr unterschiedlich gestaltet und skaliert war (und ist), wird zugunsten der «Konstanz der Struktur» ausgeblendet. Aber sind wir damit nicht wieder bei den alten Konzepten eines omnipräsenten, unwiderstehlichen Patriarchats angelangt, das alle Lebensbereiche und Wahrnehmungskategorien durchdringt?

Zugegeben, Bourdieus Begriff des Habitus und seine Betonung sozialer Konditionierungsprozesse gehen darüber hinaus, erhellen die ebenso komplexen wie komplizierten Wechselbeziehungen zwischen Strukturen und Strategien, zwischen Tätern und Opfern. Aber letztlich enthalten auch sie keine Option des Entrinnens, der Transformation. Wie es möglich sein soll, die «gesellschaftlichen Produktionsbedingungen» des Habitus so radikal umzugestalten, dass die Beherrschten ihr Einverständnis aufkündigen, bleibt völlig unklar. Willens- und Bewusstseinsakte reichen, so Bourdieu, nicht aus, denn der Habitus ist mächtiger. Der «subversive Voluntarismus» des poststrukturellen Feminismus - gemeint sind Rollenwechsel nach Art der drag queens - kann der Geschlechterordnung ebenfalls nicht ernsthaft zu Leibe rücken, er ist bestenfalls «pseudorevolutionär». Ob und gegebenenfalls wie der Markt symbolischer Güter, auf dem sich männliche Herrschaft bildet, wirkungsvoll in Unordnung gebracht werden kann, darüber schweigt sich der Autor aus. Erst im Postskriptum wirft er einen Rettungsanker aus: die Liebe, jene «verzauberte Welt» völliger Reziprozität und gegenseitiger Anerkennung. Für diese Welt findet er wunderbare Worte; auf die Frage jedoch, ob in ihr die symbolische Gewalt tatsächlich aufgehoben oder nur unsichtbar geworden sei, bleibt er die Antwort schuldig.

Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. Aus dem Französischen von Jürgen Bolder. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2005. 211 S., Fr. 36.-.

http://www.nzz.ch/2005/05/12/fe/articleCPK38.html




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