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Was ist Ethnologie? Eine schöne Definition

von lorenz am Nov 18, 2006 in Ethnologie allgemein, Forscher / Theorien / Richtungen, Artikel und Papers, Zeitschriften

(Links aktualisiert 10.9.2019) Hat jemand jemals besser erklaert was nun Ethnologie ist und was Ethnologinnen so tun? In der aktuellen Ausgabe von Ethnologik erlaeutert Alexander Knorr:

Ethnologie ist eine Kulturwissenschaft. Genauer, die Wissenschaft vom kulturell Unverstandenen.

Kultur sitzt zunächst im Geist des Menschen: Werte, Normen, Vorstellungen, Ideen, Weltsicht und Weltverständnis. Wenn solche geistigen Dinge von einer Gruppe von Menschen geteilt werden, sprechen wir von Kultur.

Aber Kultur bleibt nicht in den Köpfen und Herzen der Menschen. Sie dringt nach außen, informiert wie wir leben, was für eine Welt wir uns schaffen, wird sichtbar, fühlbar und erfahrbar. Was für Häuser und Maschinen wir wie bauen, wie wir zusammenleben, wie wir arbeiten und Freizeit verbringen, an was wir glauben, welche Geschichten wir uns erzählen, was wir moralisch für richtig und falsch empfinden, usw. All das ist Ausdruck und Teil von Kultur. Unsere gesamte Lebensweise ist Ausdruck von Kultur.

Warum verteidigen Ethnologen Minderheiten, erzählen begeistert von Gesellschaften im afrikanischen Busch? Warum bezeichnen Ethnologen Bewohner im Regenwald nicht als rückständig? Knorr macht einen kurzen fachgeschichtlichen Rueckblick:

[M]an sah, dass die Abwesenheit von Nationalstaatlichkeit, so wie wir sie uns in Europa vorstellten, nicht die Abwesenheit von politischer Organisation bedeutet. Man sah auch, daß Nicht-Christ-Sein nicht die Abwesenheit von Religion bedeutet. Man sah, dass auch ohne die Erfindung des Geldes Handel, Märkte und Ökonomie existieren können. Und man sah, dass das Fehlen von Schrift nicht bedeutet, daß es keine Philosophie und Wissenschaft geben kann.

All das hat man zunächst nicht gesehen, weil man nicht verstand, weil man gar nicht wusste, wo man hinsehen soll. Weil es in anderen Kulturen Dinge gibt, die man sich zunächst gar nicht vorstellen kann, weil sie in der eigenen, in unserer Kultur nie erfunden wurden. Doch dann begann man zu sehen, bemühte sich zu verstehen, entdeckte den Reichtum, die Vielfältigkeit und den Tiefgang anderer Kulturen. Daraus folgte der große Schritt, zu akzeptieren, dass andere Kulturen gleichberechtigte alternative Lebensentwürfe bedeuten.

(...)

Der nächste Schritt war die Erkenntnis, dass das Verstehen der Anderen, die neuen Sichtweisen die man dadurch erlangt, einem helfen können, die Dinge im eigenen Vorgarten und in unmittelbarer Nachbarschaft besser zu verstehen.

Was interessiert Ethnologen? Was sind ihre Forschungsfelder? Knorr schreibt:

Heute beschäftigt sich Ethnologie mit allen zunächst unverstandenen Formen menschlicher Lebensführung, Lebensbewältigung und Lebensgestaltung. Überall auf der Welt. Aktuelle Forschungsprojekte des Münchner Instituts für Ethnologie befassen sich beispielsweise mit Identität in Süd-Indien, mit Anbau und indianischem Weltbild in Kolumbien, mit Islam und Islamismus in Marokko, mit Christentum, Reform und indigener Gesellschaft in Brasilien, mit der kulturellen Aneignung von Informations- und Kommunikationstechnologien und mit Sprache und Globalisierungsprozessen in westafrikanischen Städten.

Wir interessieren uns aber auch für Punks in München, für die Graffitisprüher am Laimer Verladebahnhof, und für den Trachtenverein in Simbach am Inn. Alles Kulturen, denen man zunächst etwas verständnislos gegenübersteht.

Weshalb Ethnologie? Hier nur ein kurzes Zitat - ueber den Sinn von Grundforschung:

Wissenschaft ist dazu da, die Grenzen der Erkenntnis, des menschlichen Wissens über die Welt und die Menschheit selbst, weiterzuschieben. Niemand kann über die Grenzen der Erkenntnis hinaussehen, außer der Wissenschaft selbst, indem sie eben diese Grenzen verschiebt. Aber wir wissen vorher nicht, was wir dort finden werden. Wir können es nicht absehen, nur in Erfahrung bringen. Und weil wir nicht einmal wissen, was wir dort finden werden, wissen wir auch nicht, was wir vielleicht damit anfangen können.

Deshalb muss Wissenschaft zunächst frei in jede Richtung gehen dürfen und können. Und nicht nur in die Richtungen von denen wir heute, jetzt und hier vermuten, dass sie etwas praktisch verwertbares bringen. (...) Doch die vielleicht einzigartige Stärke des Menschen liegt darin, Neues in die Welt zu bringen, und mit Gefundenem Unerhörtes anzustellen.

>> zum Text in der Ethnologik "Orchideen" von Alexander Knorr (pdf, Seiten 4 und 5) LINK ALTUALISIERT 21.10.2022 - Ethnologik.de gibt es leider seit langem nicht mehr, ich habe eine Kopie hochgeladen

UPDATE:

Siehe auch zur Umbenennung des Fachs: Das Fach heißt Ethnologie, oder? Warum jetzt Kulturanthropologie? Oder Sozialanthropologie?

This entry was posted by admin and filed under Ethnologie allgemein, Forscher / Theorien / Richtungen, Artikel und Papers, Zeitschriften.
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3 Kommentare

Kommentar von: just be.

just be.

Dem Artikel ging eine Rede vorraus, die es als mp3 hier zur Verfügung steht. (Ungefähr der gleiche Text - aber gesprochen!)

Anlass war eine von Münchner Studenten organisierte Protest-Kundgebung, da dort im letzten Semester sich die Lehrbeauftragten wegen der miserablen Bezahlung weigerten, ihre Lehraufträge anzutreten. Alle Reden in einer Übersicht finden sich hier.

18.11.06 @ 02:15

Kommentar von: lorenz

admin

aja stimmt, danke fuer die Info. Mir lag sowas vage in Erinnerung

18.11.06 @ 02:19

Kommentar von: ulrichdietl

In einem Wust von Data wünschte ich mir eine Definition.
Und suchte und fand.
Auf einen Hieb.
Dankeschön mit besonderes großer Freude.

09.12.19 @ 17:29


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