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Ethnologen, raus aus der Kulturfalle!

von lorenz am Aug 2, 2008 in Wir und die Anderen, Grenzüberschreitend, multikulturell, Kultur Tradition, Bücher, Forscher / Theorien / Richtungen
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Haben Türken türkische Kultur und Deutsche deutsche Kultur? Endlich ist ein Buch auf Deutsch herausgekommen, dass mit der Vorstellung aufräumt, die Welt sei in abgrenzbare Kulturen eingeteilt, und auf die fatalen Konsequenzen dieses Denkens hinweist - dazu noch leichtverständlich:

Maxikulti heisst das Buch, geschrieben von zwei Ethnologen, die wir vom Blog CultureMatters kennen: Joana Breidenbach und Pál Nyíri.

Ausgangspunkt des Buches ist ein Problem, das auf diesem Blog viel kritisiert wurde: die Kulturalisierung von Problemen: “Kopftuchdebatte, Karikaturenstreit, EU-Osterweiterung: Kulturelle Unterschiede halten immer stärker her als Erklärung für gesellschaftliche Konflikte", so die Autoren. Der Glaube an die Unversöhnlichkeit von Kulturen boome. Unser Kulturbegriff, so die Ethnologen, sei falsch und gefährlich, führe zu schlechter Politik, humanitären Katastrophen zu Vorurteilen und Intoleranz.

Eines ihrer Beispiele handelt von Atsushi, einem japanischen Studenten, der an einer australischen Universität einen Linguistikkurs belegte, in dem es um kulturelle Aspekte von Sprache ging. (Quelle: weltbild.de):

Eines Tages forderte der Dozent ihn auf, den anderen Seminarteilnehmern zu zeigen, “wie Japaner sich begrüßen". Atsushi hob seine Hand, wedelte mit den Fingern und sagte “Hello".

Der Dozent war unzufrieden: “Ich meine, wie begrüßt du Menschen in eher formellen Situationen?”

Atsushi zuckte mit den Schultern und wiederholte seine Geste.

Nun wurde der Dozent - der von Atsushi erwartet hatte, dass er eine Verbeugung vorführt - langsam ärgerlich und fragte: “Was machst Du bitte schön, wenn Du dem Kaiser vorgestellt wirst?”

Atsushi, der sich inzwischen unangenehm bedrängt fühlte, erwiderte, er wolle den Kaiser lieber nicht kennen lernen.

Schlussendlich führte der Dozent selbst eine “typische japanische Begrüßung” vor, während Atsushi noch Wochen später empört von diesem Vorfall erzählte.

In der Berliner Gazette erklärt Joana Breidenbach:

In Maxikulti argumentieren Pal Nyiri und ich gegen eine Perspektive, die die Welt als Mosaik wechselseitig von einander abgegrenzter Kulturen sieht. Stattdessen beschreiben wir die enorme kulturelle Ausdifferenzierung weltweit, die es mit sich bringt, dass zwar immer weniger Menschen vor Ort ein gemeinsames kulturelles Inventar miteinander teilen, zugleich aber viele Brücken zu weit entfernt lebenden Menschen begehen können.

Immer mehr Menschen entwickeln ein kulturvergleichendes Bewusstsein: ihr Repertoire möglicher Verhaltensweisen und Normen erweitert sich im Kontakt mit anderen Kulturen. Diese Erweiterung der Wahlmöglichkeiten ist für die menschliche Entwicklung an sich unverzichtbar.

(…)

Ich möchte ein Bewusstsein dafür wecken, dass Kulturen von globalen Einflüssen nicht notwendigerweise zerstört werden, sondern Menschen Fremdes oft nutzen, um mehr sie selbst zu werden. Da heute so viele Menschen mit der gleichen Waren- und Ideenwelt konfrontiert sind, stellt sich die Frage nach den Gemeinsamkeiten neu.

Natürlich, schreiben die Ethnologen, seien in manchen Situationen Kenntnisse über kulturell unterschiedliche Werte und Verhaltensweisen notwendig. Doch es sei “wichtiger, Behauptungen kritisch zu hinterfragen, die im Namen von Kultur aufgestellt werden, und die dahinter versteckten Machtmechanismen zu verstehen.”

Das Buch steht als pdf zum Download bereit und ich werde im Laufe der nächsten Wochen vermutlich mehr darüber schreiben.

Ich hatte mich mit diesem Thema in meiner Lizenziatsarbeit Wessen Kultur bewahren? auseinandergesetzt und auch darauf hingewiesen, dass auch in der Ethnologie teils ein sehr zweifelhaftes Kulturverständnis aufzufinden ist. In einem führenden deutschsprachigen ethnologischen Wörterbuch fand ich folgende Definition von Kultur:

Kultur = die Summe der von einem Volk hervorgebrachten und tradierten geistigen, religiösen und künstlerischen Werte sowie seiner Kenntnisse und Handfertigkeiten, Verhaltensweisen, Sitten und Wertungen, Einrichtungen und Organisationen, die in ihrer strukturellen Verbundenheit als eine Art gewachsener Organismus den Lebensinhalt eines Volkes in einem bestimmten Zeitraum repräsentieren. Kultur kann aber auch kurz als Gruppenerscheinung einer völkischen Einheit angesprochen werden.

Dieses von der Nationalromantik geprägte Bild von Kultur ist besonders in der deutschsprachigen Ethnologie verbreitet, siehe u.a. Ethnologie-Einführungen und die Sonderstellung der deutschen Ethnologie.

UPDATE 1: >> Interview mit Joana Breidenbach im Dom-Radio

UPDATE 2: (via religionswissenschaft.info) Die Faz bespricht das Buch, siehe Die Irrtümer des Kulturalismus

SIEHE AUCH:

Wie nützlich ist der Begriff “Kultur” in der Zuwanderungsdebatte?

Einwanderung, Stadtentwicklung und die Produktion von “Kulturkonflikten”

Kindesmissbrauch bei den Aborigines: Kultur als Vorwand

Rassismus: Kultur als Deckmantel

Ethnologe: “Ethnien und Religion sind keine Kriegsursachen”

Mehr Fokus auf die Gemeinsamkeiten der Menschen! - Interview mit Christoph Antweiler

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10 Kommentare

Kommentar von: Serdar

Serdar

Das Buch lässt sich nicht mehr runterladen. War wohl nur kurze Zeit zum Download verfügbar. Aber es gibt dort noch andere viele interessante Texte.

03.08.08 @ 21:29

Kommentar von: lorenz

admin

Oh stimmt, danke fuer den Hinweis. Gut, dass ichs sofort runtergeladen hab, sonst koennte ich ja nichts mehr darueber schreiben

PS: Du hast einen interessanten Blog, werd ich auf die Leseliste setzen

03.08.08 @ 21:38

Kommentar von: Serdar

Serdar

Danke für das Kompliment :-)
Ähm…Du hast das Buch noch?!….

04.08.08 @ 00:06

Kommentar von: lorenz

admin

Ja, ich habs. Mehr dazu spaeter.

Bei amazon kann man es auch lesen. Ansonsten im Buchhandel fuer 20 Euro zu haben

04.08.08 @ 00:19

Kommentar von: joana

joana

Vielen Dank für den Verweis auf unser Buch! Im Frühjahr 2009 erscheint noch eine wesentlich längere Arbeit zum gleichen Thema bei der University of Washington Press - unter dem Titel It’s because of their culture. Einige Artikel, die wir dort aufgreifen, verdanke ich übrigens auch antropologi.info - also Vielen Dank an Euch.

Hatte selbst keine Ahnung, dass das Buch als pdf online war - und weiß bis jetzt nicht, wie es auf meine Website verlinkt wurde. Mußte meinen Systemadmin bemühen, es zu entfernen. Sorry! Bin zwar ein großer Fan von Creative Commons und anderen Initiativen, Copyrights freier und differenzierter zu gestalten, aber leider hätte ich mit Campus bestimmt Ärger bekommen, wenn das Manuskript noch frei verfügbar wäre.
herzlichst, Joana

04.08.08 @ 10:27

Kommentar von: lorenz

admin

Hi Joana,

ich fand das pdf via Google. Es ist da immer noch zu finden.

Campus scheint kein besonders fortschrittlicher Verlag zu sein. Ich sehe, Maxikulti gibt es da als e-buch. Das pdf, fuer das man 17 Euro zahlt, ist mit DRM versehen:

“Da das PDF-Dokument DRM-geschützt ist, ist es nur auf dem Gerät zu nutzen, auf das Sie es heruntergeladen haben.”

Erinnert an aehnliche zweifelhafte Praktiken bei SAGE

Freut mich zu hoeren, dass antropologi.info von Nutzen war.

04.08.08 @ 10:50

Kommentar von: Serdar

Serdar

Apropos Kopftuch, in der Zeitschrift Anthropology of the Middle East gibt es was dazu.

13.08.08 @ 20:02

Kommentar von: lorenz

admin

Danke fuer den Hinweis. Was hast Du da gelesen?

13.08.08 @ 20:04

Kommentar von: Serdar

Serdar

Die Texte sind ja frei zum downloaden. Ich hab es zufällig entdeckt, die einzelnen Artikel noch nicht gelesen.

13.08.08 @ 20:14

Kommentar von: lorenz

admin

Oja, stimmt! Gar nicht gesehen.

13.08.08 @ 20:20


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