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Was ist Natur? Wer darf über sie bestimmen? Kulturanthropologen erforschen die Rückkehr des Wolfes

von lorenz am Sep 23, 2020 in Natur und Umwelt, Deutschland, Oesterreich, Schweiz, Magister- und Doktorarbeiten, Forscher / Theorien / Richtungen

Wolf
Spätestens seit 2012 in der Calandaregion der erste Wolfsnachwuchs auf Schweizer Boden nachgewiesen wurde, wird von der "Rückkehr des Wolfes" gesprochen. Foto: ben snaps, flickr

An der Uni Zürich gibt es ein interessantes Forschungsprojekt: Wölfe: Wissen und Praxis. Ethnographien zur Wiederkehr der Wölfe in der Schweiz. Die Rückkehr der Wölfe sorgt für heftige Diskussionen. In der Schweiz wird zu diesem Thema am kommenden Sonntag abgestimmt. Ein neues Jagdgesetz, das u.a. das Abschießen von Wölfen erleichtert, wird dann dem Stimmvolk vorgelegt. Bürgerliche und Rechte sind dafür, Linksgrüne und Umweltverbände dagegen. Naturverbundene PraktikerInnen aus Jagd, Landwirtschaft und Herdenschutz stehen in der Debatte allerdings quer.

Der Beobachter interviewt zwei Teilnehmende dieses Forschungsprojektes, den Kulturanthropologen Nikolaus Heinzer und die Kulturanthropologin Elisa Frank, die ihre Dissertation über die Schweizer Wolfsdebatte schreiben.

Sie erklären, dass trotz der polarisierten Debatte Kompromisse möglich sind.

Auf der einen Seite haben wir die Befürwörter einer Rückkehr des Wolfes. "Der politische Einsatz für den Wolf", so Heinzer, ist "ein Engagement für die Natur, wie Bio-Produkte zu kaufen. Seine Rückkehr steht für eine Entwicklung als Ganzes, die man fördern will." Auf der anderen Seite haben wir die Gegner. Der Wolf ist für sie eine oft existentielle Bedrohung, "Solange es in den Alpen keine Grossraubtiere mehr gab, konnten Bergbauern Teilzeit im Tal arbeiten und ihre Tiere sich selbst überlassen", erklärt Frank. "Der Wolf bedroht diesen Lebensentwurf. Generell wird Bergwirtschaft mit ihm aufwändiger, schwieriger, teurer."

Es geht also, so die Wissenschaftlerin weiter, um große, grundsätzliche Fragen. Lebens- und Wirtschaftsformen in den Bergen werden in Frage gestellt. Und: Was ist Natur? Wer darf über sie bestimmen?

Hier spielt auch das Verhältnis zum Staat eine Rolle. Heinzer macht einen interessanten Vergleich mit den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie:

Abstürze oder Blitzschläge sind für [die Schafhalter] akzeptierte Naturgefahren. Sie passieren. Der Wolf nicht. Er ist nur da, weil das andere so wollen. Es ist wie beim Coronavirus. Wer sagt, Pandemien gibt es nun mal, der akzeptiert Einschränkungen. Wer Viruswarnungen als politische Bevormundung empfindet, hingegen nicht.

Gibt es einen Ausweg aus der Polarisation? Ja, meint Elisa Frank. Einen gemeinsamen Nenner von Gegnern und Befürwortern gebe es nämlich:

(...) Dabei sind praktisch alle der Meinung, dass Menschen in den Alpen leben und wirtschaften können sollen. Niemand will menschenleere Berggebiete. Dieser kleinste gemeinsame Nenner sollte die Ausgangslage sein, um unseren Umgang mit dem Wolf zu diskutieren. Klar gäbe es weiterhin Streit um Detailfragen, aber weniger Grundsatzdebatten über Macht und Bevormundung.

>> zum Interview im Beobachter


In einem Aufsatz auf der Wissenschaftsplattform Defacto mit den Titel "Im Schatten des Wolfes" vertiefen die beiden Doktoranden einige Aspekte des Interviews.

Nicht ganz so leserfreundliche Einblicke in ihre Forschung gibt Elisa Franks Artikel “Multispecies Interferences: Taxidermy and the Return of Wolves” in der Zeitschrift Ethnologia Europaea.

Die beiden Forschenden sind auch vertreten in der erst kürzlich erschienenen Anthologie Managing the Return of the Wild. Human Encounters with Wolves in Europe.

Fast gleichzeitig ist noch ein Zeitungsartikel über einen Anthropologen erschienen, der sich für das Thema Wolf interessiert: «Der Wolf bringt immer Aufregung mit sich»: Frauenfelder und St.Galler Filmemacher nähern sich dem Raubtier in einem Kinoessay, meldet das St.Galler Tagblatt. Es dreht sich hier um Beat Oswald, der mit Samuel Weniger einen Film über dasselbe Thema dreht.

Wir lesen:

Was als klassische «Into the Wild»-Erzählung beginnt, ändert sich im Verlaufe des Filmes. Denn obwohl die im Tal lebenden Menschen die Anwesenheit des Wolfs bestätigen, bekommt der Städter diesen nicht zu Gesicht. In Gesprächen mit den Dorfbewohnern merkt er, dass die Geschichten, welche die Menschen über den Wolf erzählen, spannender sind als das Tier selbst.

Der Wolf stehe sowohl auf individueller als auch gesellschaftlicher und globaler Ebene für Veränderung. «Er wird zum Stellvertreter für tiefgreifende Auseinandersetzungen wie etwa die Frage, ob das wahre Leben in der Natur oder in der Zivilisation stattfindet, die Auslotung der Grenzen zwischen Natur- und Kulturraum sowie globalen Themen wie der Klimawandel.»

>> zum Interview im Tagblatt

Diese Forschungen sind Teil einer Richtung, die in den letzten zehn Jahren trendy geworden ist: multispecies anthropology (pdf) - ein Thema, worüber auch viel gebloggt wird.

UPDATE 28.9.2020

Historikerin Aline Vogt hat auf Geschichte der Gegenwart einen interessanten Beitrag über unser Verhältnis zum Wolf geschrieben:

Ein Blick in die Geschichte zeigt aber, dass das Recht des Menschen, Tiere über­haupt zu regu­lieren, nicht selbst­ver­ständ­lich ist. Für die Legi­ti­mie­rung des mensch­li­chen Eingriffs in die Natur spielen viel­mehr histo­risch entstan­dene Ideen von mensch­li­cher und männ­li­cher Über­le­gen­heit eine zentrale Rolle.

Das Jagdgesetz wurde übrigens abgeleht.

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