antropologi.info - Ethnologie / Sozialanthropologie / Kulturanthropologie Blog

    Nordisk | English | Anthropology Newspaper | Anthropology Journal Ticker | Journals | Kontakt

Wie nützlich ist der Begriff "Kultur" in der Zuwanderungsdebatte?

by lorenz on Dec 10, 2006 in Migration Integration, Wir und die Anderen, Grenzüberschreitend, multikulturell, Kultur Tradition, Deutschland, Oesterreich, Schweiz

Kultur ist einer der schwierigesten Begriffe in der Ethnologie. Nachdem die allermeisten Ethnologen ihn immer weniger benutzen, ist er besonders bei Nationalisten und lautstarken Islamkritikern beliebt. Karin Nungeßer hat im Freitag einen schoenen Text zum Nutzen des Begriffs "Kultur" in der Debatte um Zuwanderung in Deutschland geschrieben - inspiriert von einem offenbar umstrittenen Film (Knallhart):

Die Botschaft, nicht nur im Film, lautet: Wenn wir Zusammenstöße vermeiden wollen, müssen wir wachsam sein - und ihnen im Zweifelsfall besser aus dem Weg gehen. Die Unterscheidung zwischen "uns" und "den anderen" wird dabei ebenso vorausgesetzt wie legitimiert - mit dem fatalen Effekt, dass jede Differenz, die "Ausländer" betrifft, als potenziell bedrohliche wahrgenommen wird.

Hier ist "Kultur" der zentrale Begriff, um zwischen "uns" und "den anderen" zu unterscheiden.

Keine einfache Sache offenbar, denn das Statistische Bundesamt hat mittlerweile nicht weniger als zehn verschiedene Kategorien von "Menschen mit Migrationshintergrund", z.B.

- "Ausländer",
- "Spätaussiedler"
- "Eingebürgerte"
- "Deutsche mit einseitigem Migrationshintergrund"
- "Deutsche nach ius-solis-Regelung"
- hier geborene Kinder, die sich spätestens mit 23 Jahren zwischen ihrer deutschen und ihrer nicht deutschen Staatsangehörigkeit entscheiden müssen.

Diese "anderen Deutschen" (zu denen ich laut dieser Definition also auch zugehoere) machen über 15 Millionen Menschen und damit knapp ein Fünftel der Gesamtbevölkerung Deutschlands aus.

Die Freitag Autorin zitiert Ethnologen Martin Sökefeld, der feststellt, dass der Gebrauch von "Kultur" als geteilter Bestand von Gruppen sich in der Ethnologie weitgehend erledigt hat:

Zu groß ist das Bewusstsein, dass Kultur von Menschen in ihrer sozialen Praxis geschaffen wird, dass sie daher Konflikten unterliegt und sich permanent verändert. Deshalb haben die Angehörigen einer Gruppe kaum durchgängig ein und dieselbe Kultur - auch wenn genau das behauptet wird. So wenig die autochthone Bevölkerung also samt und sonders auf die Werte von Christentum und Aufklärung verpflichtet werden kann, so wenig unterliegen Migranten und Migrantinnen einer eigenen "Kultur", die ihr Denken und Handeln bestimmt.

Sie schreibt auch von einer Studie unter muslimischen Kopftuchtraegerinnen, die - nicht ueberraschend - folgendes ergab:

So gaben zwar 95 Prozent als wichtiges Lebensziel an, ihren Glauben leben zu wollen. Die meisten von ihnen - fast 80 Prozent und damit ungefähr genauso viele unter den kopftuchlosen deutschen Frauen - sehen es jedoch als ebenso wichtig an, "möglichst frei und unabhängig zu sein".

Ihre Schlussfolgerung:

Wenn offenbar selbst streng religiöse Muslimas in Deutschland mit einem Mix aus traditionellen und modernen "westlichen" Werten leben, ist die Idee einer kulturellen Differenz zwischen "uns" und "denen" dann nicht ehrlicherweise als das zu verabschieden, was sie ist: eine Ideologie, die uns schadet? Weil sie Integration erschwert und den sozialen Frieden in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland gefährdet?

Tatsächlich geht es nämlich um viel. Das Reden über "Kultur" ändert ja nichts am sozialen und politischen Machtgefälle zwischen Mehrheitsgesellschaft und Einwanderern, das in der Tat gravierend ist und dringend angegangen werden muss. So brauchen wir, um nur die beiden wichtigsten Punkte zu nennen, endlich ein Schulsystem, das Kinder von Geringqualifizierten nicht länger eklatant benachteiligt, und politische Mitbestimmungsrechte für alle, die hier dauerhaft leben.

>> zum Text im Freitag

SIEHE AUCH:

"Anders Deutsch" und "Die virtuelle zweite Generation"

Schule, Integration und Kosmopolitismus

Wieviel Zusammenhalt braucht eine Gesellschaft? Notizen zu einer hysterischen Debatte in Deutschland

Wo Araber, Berber, Juden und Hippies zusammenleben - Doris Byers Ethnologie

Schiffauer: "Die Deutschen haben nur auf jemanden wie Kelek gewartet"

Ausländerhetze im SPIEGEL: "Hätte niemals in Frankreich publiziert werden können"

Die ethnologische Kritik am Kultur-Konzept

The Culture Struggle: How cultures are instruments of social power

Kindesmissbrauch bei den Aborigines: Kultur als Vorwand

For free migration: Open the borders!

Racism: The Five Major Challenges for Anthropology

This entry was posted by admin and filed under Migration Integration, Wir und die Anderen, Grenzüberschreitend, multikulturell, Kultur Tradition, Deutschland, Oesterreich, Schweiz.
  • « Schiffauer: "Öffnung gegenüber dem Islam nicht der Terrorismusbekämpfung unterordnen"
  • Das spezielle Verhältnis der Hindus zu ihren Göttern »

3 comments

Comment from: Adrian

Adrian

Es ist doch viellicht gerade das, was der Inbegriff der Kultur ist, dass sie aus Auswahl und Mischung besteht, und nicht aus einem Wesen.
Dann ist sie zwangsläufig durch die jeweilige Realisierung von Auswahl und Mischung beim Einzelnen anders als die statistische Mitte (wenn es so etwas denn gibt).
Dann aber hat man tatsächlich ein Problem mit dem Begriff der Kultur, weil sie immer in der Realisierung “anders” ist als in der Virtualität ihrer Definition.

2007-01-02 @ 00:03

Comment from: Erwin Orywal

Erwin Orywal

Im Folgenden ein Zitat, das sicherlich bei allen “Anti-Ethnisierungstheoretikern” auf vollen Zuspruch stößt - aber bitte einmal genau nachdenken!

“Was mich betrifft", schreibt Amartya Sen, “so kann ich mich zur gleichen Zeit bezeichnen als Asiaten, Bürger Indiens, Bengalen mit bangladeshischen Vorfahren, Einwohner der Vereinigten Staaten oder Englands, Ökonomen, Dilettanten auf philosophischem Gebiet, Autor, Sanskritisten, entschiedenen Anhänger des Laizismus und der Demokratie, Mann, Feministen, Heterosexuellen, Verfechter der Rechte von Schwulen und Lesben, Menschen mit einem areligiösen Lebensstil und hinduistischer Vorgeschichte, Nicht-Brahmanen und Ungläubigen, was das Leben nach dem Tode (und, falls es jemanden interessiert, auch ein ‘Leben vor der Geburt’) angeht. Dies ist nur eine kleine Auswahl".

Nein! Genau das kann man und frau nämlich nicht! Es ist immer der jeweilige Kontext, der eine Differenz- oder Differenzierungsposition selektiert. Nur dann macht es nämlich Sinn, eine Standortbestimmung vorzunehmen, zu kommunizieren und kulturell auch dekodieren u können. Beispielsweise auf die Frage: “Wo kommst du her” zu antworten: “ich bin homosexuell", würde sicherlich auch bei den politisch korrekten “Integrationisten” auf ein gewisses Unverständnis stoßen. Wir müssen uns auch leider mit dem Gedanken anfreunden, dass andere ihre jeweilige Identität ggf. abgrenzend positionieren. Und um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Identität beinhaltet nicht notwendigerweise Ab- oder Ausgrenzung, aber wenn Identitäten instrumentalisiert werden, kann es zu - gewollten - Konflikten kommen. Identität ist ein reflexiver Prozess. Ohne das Wissen um “das Andere” (z.B. Tiere, Pflanzen” oder “den Anderen” könnten wir uns selbst garnicht “erkennen".

2007-06-25 @ 14:48

Comment from: lorenz

admin

Das ist in der Tat ein schoenes Zitat, doch es ist ja wie Sie schreiben nicht so, dass diese Antwort von allen akzeptiert wird, da einem Identitaet auch zugeschrieben wird - davon koenne alle Migranten ein Lied singen. Und da sind wir ja beim Problem: Ohne Dekonstruktion des dominanten Denkens ueber Kultur, Identitaet und Ethnizitaet wird sich da wenig aendern.

2007-06-29 @ 13:56


Form is loading...

Suche

Neueste Beiträge

  • Paywalls überall: Wie kann man sich noch über Sozial- und Kulturanthropologie / Ethnologie informieren?
  • Was ist Natur? Wer darf über sie bestimmen? Kulturanthropologen erforschen die Rückkehr des Wolfes
  • "Je diverser die Gegend ist, um so weniger hat sie mit Landflucht zu kämpfen"
  • Was haben Corona-Hamsterkäufe mit der AIDS-Epidemie zu tun?
  • Migrationspolitik: "Abgelehnte Asylbewerber sind die perfekten Ansprechpartner"

International

  • antropologi.info is 20 years old - some (unfinished) notes and thoughts
  • More dangerous research: Anthropologist detained, beaten, forcibly disappeared in Egypt
  • When research becomes dangerous: Anthropologist facing jail smuggles himself out over snowy mountains
  • In Europe, more than two thirds of all academic anthropologists are living in precarity

Neueste Kommentare

  • Fachkollegin am Die zweifelhalften Kampagnen von Survival International
  • Christoph Antweiler am Populärethnologie von Christoph Antweiler: Heimat Mensch. Was uns alle verbindet
  • Dieter Haller am Neuer dtv-Atlas Ethnologie verhöhnt die Leserschaft?
  • Ute Hartmann am Neue Übersicht für Stellenangebote und Ankündigungen
  • ulrichdietl am Was ist Ethnologie? Eine schöne Definition

Categories

  • All

Nur Ergebnisse behalten, die zu Folgendem passen:

XML-Feeds

  • RSS 2.0: Beiträge, Kommentare
  • Atom: Beiträge, Kommentare
What is RSS?

User tools

  • Admin

©2025 by Lorenz Khazaleh • Kontakt • Hilfe • Content Mangement System