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Deutschsprachige Ethnologie-Blogs - Ein kurzer Zustandsbericht

von lorenz am Dez 25, 2014 in Ethnologie allgemein, Internet, Webseiten, Wissensvermittlung • Einen Kommentar hinterlassen »

Diesen ruhigen, stets sonnigen Weihnachtstag in Kairo, nehme ich als Anlass, einen kurzen Blick auf die deutschsprachige Ethnologie-Blogosphäre zu werfen. Einiges hat sich verändert, seitdem es wegen meiner veränderten Lebenssituation auf antropologi.info ruhiger geworden ist.

Einige neue Blogs, die sich mit Ethnologie, bzw Sozial- oder Kulturanthropologie beschäftigen, sind hinzugekommen, während mehrere beliebte Blogs am Einschlafen sind oder existieren nicht mehr.

Hier zuerst eine Übersicht über neue Blogs

  • Ethnosphäre: Julia Herz - el Hanbli ist Ethnologin und Journalistin aus Mainz. Sie erklärt leichtverständlich den Sinn und Zweck von Ethnologie und präsentiert Neues vom Fach. Schön aufgemacht, sehr empfehlenswert. Vielleicht bald einer meiner neuen Lieblingsblogs. Beispiele: Beispiel: Photofestival in Lagos: Mit Kunst Klischees einreißen und Ethnologie in der Medizin: Wie passen denn die herein?

  • Medizinethnologie: Körper, Gesundheit und Heilung in einer globalisierten Welt: Vielversprechende Initiative der Arbeitsgruppe Medical Anthropology in der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde. Die ersten Beiträge handeln um die Ebola-Krise, u.a. Die Ebolakrise aus Sicht der Medizinethnologie: von Misstrauen zu lokal angepasster Patientenversorgung

  • Auslandsberichte von Tübinger Ethnologen: Eine sehr schöne Initiative mit Berichten von Feldforschungen von vielen Ecken der Welt, z.B. Tamil Nadu, Indien und Antananarivo, Madagaskar

  • ethnologic - Ethnologie in den Medien: Hier werden Beiträge, Interviews und Initiativen ethnologischer Art gesammelt, kommentiert, und veröffentlicht. Es vergehen jedoch gerne ein-zwei Monate zwischen den Blogposts. Keine Information über Autor(in). Letzte Beiträge: Deutsche Weihnachtsmärkte – Eine Mischung aus “Fantasyroman, Ikea und Landlust” und Über aufgeblasene Egos in Wissenschaft, Lehre und Studium

  • Humboldt Lab Blog: Blog zum Thema Museum und Repräsentation: Welche Herausforderungen geben sich bei einer neuen Präsentation der Sammlungen, die sich zwischen Ethnologie und Kunst bewegen? Aus dem Ethnologischen Museum und dem Museum für Asiatische Kunst in Berlin soll das neue Humboldt-Forum werden. Beispiele: Dreidimensionale virtuelle Positionierung von Klängen und Projekt »Hmong sein«: 5 Short Cuts erproben Präsentationsform von Film in Ausstellungen

  • Happy-Unternehmenskultur-Blog: Katrin Roppel ist Unternehmensethnologin und gibt Einblick in dieses wachsende Beschäftigungsfeld. Beispiele: Mitarbeiter kommen wegen der Marke und gehen wegen der Unternehmenskultur und Arbeitsplatz der Zukunft: Büroräume als Spiegel der Unternehmenskultur

  • ETHeritage: eine Sammlung von Highlights aus den Sammlungen und Archiven der ETH-Bibliothek Zürich. Letzte Beiträge: Weihnachten im Basler Rheinhafen und Wie der Tee nach Japan kam

Zu den Blogs, die bessere Zeiten gesehen haben, gehört leider Ethno::log aus München, ein Blog der ersten Generation, mehr als zehn Jahre alt. Nur sehr wenige Posts, die meisten sind Ankündigungen. Wildes Denken, eine Zeitlang einer der besten Blogs, scheint völlig eingeschlafen zu sein, seit März 2013 ist da Funkstille. Ethmundo, das jahrelang gute Magazinbeiträge lieferte, scheint ein ähnliches Schicksal ergangen zu sein. Sämtliche Texte sind verschwunden. Ruhiger geht es auch zu auf dialogtexte.

Weiter eifrig gepostet wird u.a. auf Teilnehmende Medienbeobachtung, dem Ethno-Podcast/Radio Der Weltempfänger und Kulturwissenschaftliche Technikforschung

Die neuesten Beträge deutschsprachiger Blogs gibt es von nun an hier: https://feeds.antropologi.info/german/

Welche Blogs habe ich vergessen?

Der neue antropologi.info Announcement Blog

von lorenz am Dez 23, 2013 in Internes • Einen Kommentar hinterlassen »

Von nun an befinden sich alle Call for Papers, Stellenausschreibungen und alle sonstigen Ankündingungen auf dem neuen Announcement-Blog http://www.antropologi.info/blog/announcements/

Das Bulletin Board hatte ich wegen hartnäckigen Spam- und Hackerangriffen vom Netz neben müssen.

Wer also Ankündigen hat, kann sie gerne mir schicken, ich werde sie dann veröffentlichen.

Die neuesten fünf Ankündigungen findet Ihr immer auch hier auf diesem Blog in der Sidebar rechts.

Bisher gibt es zwei aktuelle Einträge: Einen Call for Papers für einen Sammelband in der Reihe Junge Wissenschaft im Verlag des HammockTreeRecords Kollektivs zum Thema Konsum und einen Call for Papers von Tsantsa, der Zeitschrift der Schweizerischen Ethnologischen Gesellschaft (SEG) zum Thema Anthropologie und die ontologische Wende

"Den Geist des Krieges beschwören": Mit EthnologInnen beim Völkerschlacht-Jubiläum

von lorenz am Nov 21, 2013 in "Open Access"- Ethnologie, Geschichte, Kultur Tradition, Deutschland, Oesterreich, Schweiz, Konflikt Gewalt • Einen Kommentar hinterlassen »


Militaristisch, historisch mahnend oder Tourismusattraktion? Das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig. Foto: Mike TheG-Forcers, flickr

Ein unwohles Gefühl befiel mich, als ich mir vor vielen Jahren das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig anschaute. Ähnlich ist es den EthnologInnen Friedemann Ebelt und Theresa George ergangen, als sie das Denkmal kürzlich besuchten um sich das Reenactment der Völkerschlacht bei Leipzig anzusehen.

Diese Nachstellung der Schlacht fand anlässlich des Doppeljubiläums 200 Jahre Völkerschlacht - 100 Jahre Völkerschlachtdenkmal statt. Durch zahlreiche Veranstaltungen sollte das Völkerschlachtdenkmal zu einem Mahnmal der Leiden des Krieges und zu einem Symbol des europäischen Zusammenlebens werden.

Im folgenden Beitrag zeigen die EthnologInnen, wie bei dieser lebendigen Geschichtsdarstellung stattdessen der Geist des Militarismus aufs Neue zum Leben erweckt wurde.


Vom Krieg besessen: Was passiert, wenn Schlachten zu lebendiger Geschichte werden

Von Friedemann Ebelt und Theresa George

Im Oktober verbrachte ich mit der Ethnologin und Filmemacherin Theresa George anlässlich der Gedenkwoche zum 200. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig vier Tage in der Messestadt. Mit Kamera und Bleistift wollten wir herausfinden, worum es bei der Lebendigmachung von Geschichte im Kern geht. Aus ethnologischer Perspektive handelt es sich um eine Geisterbeschwörung.

1813 lassen in der Völkerschlacht bei Leipzig unzählige Soldaten ihre Leben und ihre Körper auf den Schlachtfeldern. Aus den toten Körpern steigt ein Kriegsgeist empor, der über 200 Jahre hinweg immer wieder lebendig gemacht wird. 100 Jahre nach der Völkerschlacht wird diesem Geist mit der Errichtung des Völkerschlachtdenkmals ein ewiger Körper aus Stein gemauert.

Der Geist von 1813 zieht in das Bauwerk ein. Seit dem haust er dort in der Gestalt der Vorstellung, dass die nationale Geschichte Deutschlands eine militärische Leistung sei. Für die Ahnen der 1813 getöteten Soldaten wird das Völkerschlachtdenkmal ein priviligierter Ort, an dem sie den Geist des Krieges und des Militarismus beschwören. 1913 führt dieser Geist wieder Menschen in Soldatenuniformen in den Ersten Weltkrieg. 1933 fährt der Geist des Militarismus in die Fackeln und Fahnen der Nationalsozialisten und nach dem Zweiten Weltkrieg beseelt er die Insignien der Nationalen Volksarmee.

Der brasilianische Ethnologe Eduardo Viveiros de Castro schreibt über religiösen Ahnenkult und die vielen Körper des Geistes: „Die Geistige Identität überschreitet die körperliche Schranke des Todes, die Lebenden und die Toten sind ähnlich, solange sie vom selben Geist beseelt sind – das »über-menschliche« Ahnentum und die geistige Besessenheit einerseits und (…) die körperliche Metamorphose andererseits“.

Zweihundert Jahre nach der Schlacht, also im Jahr 2013 wird der Versuch unternommen den Geist des Krieges mit einer Gedenkwoche zu befrieden. Durch zahlreiche Veranstaltungen soll das Völkerschlachtdenkmal zu einem Mahnmal der Leiden des Krieges und zu einem Symbol des europäischen Zusammenlebens werden.

In Podiumsgesprächen werden Vergangenheit und Zukunft Europas, der Wert des Friedens aber auch die Schrecken und Details der Schlacht von 1813 diskutiert. In Friedensgebeten und Gottesdiensten wird den Toten der Kriege gedacht. Ausstellungen zeigen Gemälde, Artefakte und Zeitdokumente. Im Inneren des Völkerschlachtdenkmals können Interessierte an Spezialführungen teilnehmen und außen wird Europa und der Frieden mit Sportveranstaltungen, Konzerten, Lichtshows und Feuerwerk gefeiert.

Doch der Geist des Militarismus lässt sich nicht vertreiben. Er wird während der Gedenkwoche aufs Neue zum Leben erweckt. Die eindrücklichste Verkörperung des Geistes ist die militärhistorische Nachstellung der Völkerschlacht bei Leipzig. Vier Tage lang werden Schlachtfelder ausgebreitet und Kanonen herbei gerollt. 6000 Menschen in historischen Uniformen verleihen dem Geist der Schlacht von 1813 einen neuen Körper. Die HobbyhistorikerInnen beschwören ihn mit ihren originalgetreuen Waffen, ihrem authentisch militärischem Verhalten und ihrem Interesse für die Geschichte Europas als Militärgeschichte.

Gesagt wird, dass es sich um ein legitimes historische Interesse handelt, wenn Geschichte zum Anfassen inszeniert wird - und das ist auch wahr. Aber wenn Hobbysoldaten und Publikum bei Gesprächen über militärische Tötungsakte und Schlachtstrategien eine gruselige Freude empfinden und wenn Kinder in ihrem Kriegsspiel die Kriegsbegeisterung ausleben, die die Disziplin der uniformierten Erwachsenen unterbindet – geht es nicht um Interesse an Geschichte, sondern es wird der Geist des Militarismus belebt.


Warum marschieren die todbringenden und gleichzeitig todgeweihten Körper in ihren Uniformen statt auf ein Schlachtfeld nicht auf einen symbolischen Friedhof um ihre Waffen, Abzeichen und Uniformen niederzulegen? Foto: Friedemann Ebelt und Theresa George

Der harmlose Krieg

Im Gegensatz zu 1913 stehen 2013 keine Soldaten am Völkerschlachtdenkmal, die auf einen kommenden Krieg eingeschworen werden. Stattdessen wird der Geist des Militarismus mit flachem Puls und vielleicht auch durch Unaufmerksamkeit zum Leben erweckt.

Es droht keine Kriegsbreitschaft, aber die Bajonette glänzen in der Sonne und die Soldaten lächeln mit faisten Wangen. Kein Blut, keine Schreie und kein Tod. Die Inszenierung der Hobbysoldaten kann als Geschichtvermittlung gelten, weil die Kostüme, die Waffen und das Verhalten authentisch erscheinen.

Plausibel ist dieses Schauspiel trotzdem nicht, denn die Geister der Verhungerten und Erkrankten, die Geister der Soldaten, deren Uniformen an ihrer Haut schimmelte und all die Geister von den verkrüppelten, traumatisierten und krepierten Menschen werden nicht verkörpert. Es geht auch nicht, dass in den Gassen der historischen Dörfer stinkende, schreiende und tote Körper liegen, denn dann würden keine Zuschauer kommen und die OrganisatorInnen der friedlichen Schaugefechte könnten sich nicht historisch überlegen zum kriegerischen Jahr 1813 fühlen.

Allen, die Spektakel einer lebendigen Geschichte organisieren ist bewusst, dass erlebbare Geschichte nur möglich ist, weil die historischen Zustände nicht erlebbar gemacht werden. Stattdessen basiert die Belebung von Geschichte auf einer romantischen Reinigung von Brutalität und Schönheit. Diese Reinigung ist notwendig, damit der Terror des Kriegs als Veranstaltungswoche genossen werden kann. Die Reinigung gelingt in Leipzig im Oktober 2013 aber nicht vollständig, weil sich der Terror aus Bajonetten und Kanonen nicht zurückzieht, nur weil das Kriegsgerät nicht zum tödlichen Einsatz gebracht wird.

Dass diese Reinigung eine abenteuerliche Gratwanderung ist, wird offensichtlich, als der Moderator ein Schaugefecht mit den Worten „Trotz des eigentlich traurigen Anlasses – Gute Unterhaltung!“ eröffnet. Nach dem Artilleriedonner ist das Spektakel zu Ende: „Wir danken den Kanonieren mit großem Applaus!“ In diesen Veranstaltungen erfährt das Publikum Details zu den Waffengattungen, zu den Kampftaktiken und zum Kampfgeschehen.

Als Teil des Publikums erfuhr ich auf wie viele Meter welche historische Waffengattung tödlich ist. Ein Mann mit seinem Sohn an der Hand schwärmt einem Freund mit glänzenden Augen vor: „Die haben sich Auge in Auge gegenübergestellt und sich abgeschlachtet.“ Vor einem Zelt im Biwak: Ein Hobbysoldat in der Uniform der preußischen Landwehr von 1813 salutiert mit seiner Mütze und ruft den vorbeigehenden Soldaten entgegen: „Euch Tod und ewige Verdammnis!“. Noch vor wenigen Stunden sagte dieser Mann, dass hier alle Freunde seien und man sich prächtig verstehe.

Ermöglicht es eine historische Rolle, einem Freund Tod und ewige Verdammnis zu wünschen? In solchen Momenten wird der Geist des Militarismus lebendig und weil die nachgestellten Gefechte scheinbar einem aufklärerischen historischen Interesse dienen, wird es möglich den Militarismus zu genießen.

In der Mittagspause marschieren fünf Hobbyhistoriker in Uniform in einen Asia-Imbiss ein. Beim Anstoßen mit deutschem Bier, denn das asiatische macht Schlitzaugen, wird ausgerufen:„Gott schütze Preußen!“ Erlebbare Geschichte und erlebbare Gegenwart verschmelzen unter den Kostümen, die dann keine mehr sind. Die Soldatenrolle wird in der Mittagspause nicht verlassen - weil sie nicht nur eine gespielte Rolle ist.

De Castro schreibt: „Eine Kleidung-Maske zu tragen, bedeutet weniger eine, menschliche Essenz (…) zu verbergen, als Mächte eines anderen Körpers zu aktivieren“. Diesem Gedanken weiter folgend sind die historischen Uniformen „keine Verkleidungen, sondern Instrumente: Sie ähneln den Taucherausrüstungen (…) nicht den Fasnachtsmasken. Wer einen Taucheranzug anzieht, beabsichtigt, wie ein Fisch funktionieren zu können, und nicht, sich unter einer eigenartigen Form zu verstecken“.

Beim Waffenputzen, Singen oder Kanonenabfeuern entstehen Momente in denen die vernünftige Gefasstheit der lebendigen Geschichte verlorengeht. Ein scheinbar sachlich-historisches Interesse weicht der Faszination der Macht durch Waffengewalt.

Während unseres Besuchs der Gedenkwoche fragen wir uns, wie es sich für die Hobbysoldaten anfühlt, wenn sie sich während eines Angriffs in der historischen Gefechtsdarstellung totspielend zu Boden fallen lassen. Und: Wie fühlt es sich auf der anderen Seite an, das originalgetreue Gewehr zu laden, auf die historischen Feinde zu richten und abzufeuern um dann zu sehen, dass jemand zu Boden fällt?

Mit dem Buch Im Rausch des Rituals , das die Ethnologen Klaus-Peter Köpping und Ursula Rao 2000 herausgegeben haben, sind die Szenen der Gefechte als kollektive kulturelle Performanzen zu verstehen, in denen Werte ausgedrückt, bestätigt und in Körper eingeschrieben werden.

Kinder und die Freude am Kriegspielen

Nachdem wir dem Geist des Militarismus auf die Spur gekommen waren, fragten wir uns, ab wann seine Erweckung problematisch wird. Beim Blättern in unseren Notizheften und beim Anschauen von Fotos wurde uns klar, dass der Geist des Militarismus nicht nur Erwachsene ergreift, sondern auch in Kindern lebendig wird.

Eltern tragen ihre Kinder auf dem Arm an die Pferde der Soldaten heran, damit die Kleinen die Tiere streicheln können. Im Hintergrund reiten Kavalleristen vorbei und Kinder galoppierten mit Steckenpferden hinter den berittenen Soldaten her.


Wieso stört es die Erwachsenen nicht, wenn ihre Kinder zu Soldaten werden? Foto: Friedemann Ebelt und Theresa George

Eine andere Szene: Sechs Hobbysoldaten proben Wachablösung in einem historischen Dorf. Ein Kind betrachtet die Szene und schießt mit seinem Stockgewehr auf die Soldaten und in das Publikum. Wenn ein kleiner Junge vor Soldaten, die eine Wachablösung proben, Krieg empfindet und mit seinem Körper das Abfeuern eines Gewehres spielt und dabei auf Menschen zielt, ohne, dass irgendjemand etwas sagt, dann verkörpert dieser Junge die Freude, die die Hobbysoldaten empfinden, wenn sie auf ihrem Schlachtfeld stehen.

Anders gesagt, haucht in dieser Szene ein Hobbyoffizier als Ritualmeister beim Üben einer militärischen Wachablösung seinen Hobbysoldaten den Geist des Krieges ein, der auch in das zuschauende und mitmachende Kind fährt. Der Unterschied ist, dass das Kind im Gegensatz zu den Wachen diesen Geist nicht diszipliniert, geheimhält, oder versteckt.

Am Abend marschiert dann ein Trupp von vielleicht 20 Soldaten im Gleichschritt durch den Biwak ihrer historischen Gegner. Einhundert Meter weiter spielen ein paar Kinder mit Stöcken und Steinen Infanterieangriff vor den Biwaks der großen Hobbysoldaten. Ein kleiner Junge sitzt auf den Schultern seines Vaters und senkt am ausgestreckten Arm einen Stock wie ein Kavallerist seinen Säbel zum Angriff.

Die Begeisterung mit der die Kinder spielen, sich gegenseitig zu verletzten und zu töten, löste bei uns Beklommenheit aus. Wieso stört es die Erwachsenen nicht, wenn ihre Kinder zu Soldaten werden?

Scheinbar friedlich erleben die Großen und Kleinen die Idee des gerechten und edlen Kampfes und tauchen in ein harmloses, aber befriedigendes, womöglich sogar therapeutisches Kriegsspiel ein.

Der Geist, der zum 200. Jubiläum der Völkerschlacht geweckt wurde, lebt von der Lust, ab 15 Euro Eintritt den Nervenkitzel von Krieg kosten zu dürfen - ohne ihn tatsächlich erleben zu müssen. Das Rollenspiel der Erwachsenen ist aber ein verkapptes Spiel, weil sie die Emotionen, die die Vorstellung im Kampf zu sein, bei ihnen auslösen, hinter einem vorgeschobenem historischen Interesse verbergen. Die Gefahr dabei ist, dass sowohl Erwachsene als auch Kinder mit einem positiven Kriegstrauma die Gedenkwoche verlassen.

Gleichzeitig sind es Kinder, die den Geist des Militarismus auf Gefühlsebene entlarven. Sie weinen und schreien, wenn Kanonendonner in der Dunkelheit die Luft zum Zittern bringt. Sie spüren das Grauen dieser Kriegsspiele und davon berührt fragten wir uns, warum lebendige Geschichte eigentlich militant sein muss? Warum marschieren die todbringenden und gleichzeitig todgeweihten Körper in ihren Uniformen statt auf ein Schlachtfeld nicht auf einen symbolischen Friedhof um ihre Waffen, Abzeichen und Uniformen niederzulegen?

Das Erinnern an Krieg ist möglich, ohne den Geist des Militarismus wiederzubeleben, wenn lebendige Geschichte Zivilisten statt Soldaten hervorbringt. Wenn Frieden die Botschaft der Gedenkwoche sein soll, dann muss ein lebendiges Bewusstsein für Frieden und Achtung vor Körpern zum Leben erweckt werden. Statt dessen werden aber die Apparate, Geisteshaltungen und Verhaltensweisen, die erdacht wurden sind, um möglichst viele Körper in möglichst kurzer Zeit im Namen des Geistes einer Nation, eines Königs oder eines Volkes zu töten, zur Schau gestellt und verehrt.

Solange es lebendiger Geschichtsdarstellung darum geht, welche Seite mit welchen Waffen und cleveren Taktiken welchen Sieg errang und welche Wichtigkeit das für den Fortgang der Geschichte hat, wird der Geist des Militarismus zum Leben erweckt.

Friedemann Ebelt ist Ethnologe, Filmemacher und Medienwissenschaftler. Er lebt in Halle an der Saale. Die Ethnologin, Journalistin und Filmemacherin Theresa George lebt in Hamburg.

SIEHE AUCH:

Die Schlacht im Teutoburgerwald und die Relevanz von antiker Ethnologie

Schluss mit der Funkstille

von lorenz am Nov 21, 2013 in Internes • Einen Kommentar hinterlassen »

Ein Jahr lang keine neue Beiträge auf diesem Blog. Wer ab und zu auf dem englisch sprachigen Blog auf antropologi.info vorbeischaut, weiss, was mir ergangen ist. Ein neues Leben als verheirateter Mann habe ich angefangen! In Kairo, sechs Flugstunden von meiner anderen Heimat Oslo. Ursprünglich wollte ich nur einen Sommer in der ägyptischen Hauptstadt bleiben, nun habe ich hier geheiratet und ich, eigentlich ein Nomade, bin hier anscheinend sesshaft geworden.

Antropologi.info möchte ich nicht eingehen lassen, obwohl ich gelernt habe, dass in meinem neuen Leben noch weniger Überschuss für solche Aktivitäten vorhanden ist - nicht zuletzt aus finanziellen Gründen.

Mich freut es daher, dass trotz der Funkstille noch Mails an mich geschrieben werden und neue Anmeldungen an den Newsletter (bislang nur auf norwegisch) eingehen. Ein Email mit einem schönen Text, der mich vor wenigen Tage erreichte, möchte ich Anlass nehmen, Schluss mit der Funstille zu machen. Viel Spass beim Lesen etwas später heute abend!

Die gefährlichen (Mainstream-) Medien

von lorenz am Okt 21, 2012 in Wir und die Anderen, Medien, Deutschland, Oesterreich, Schweiz • Einen Kommentar hinterlassen »

Eine der wichtigsten Blogs ist Teilnehmende Medienbeobachtung. Regelmässig zeigen die Autorinnen und Autoren von der Uni Wien auf, wie Medien Vorurteile in der Bevölkerung verbreiten. Damit nicht genug. Viele ihrer Blogbeiträge sind zuvor bereits als Leserbrief in der jeweiligen Redaktion gelandet.

Persönlich bin ich mehr und mehr zur Überzeugung gekommen, dass Mainstreammedien eine der grössten Bedrohungen für Demokratie und friedliches Zusammenleben auf diesem Planeten darstellen. Einen grossen Eindruck hinterliessen bei mir die Forschungen von Sharam Alghasi und Elisabeth Eide.

Ein neueres Beispiel sind die Berichte über “muslim rage”, also über die Proteste gegen den Anti-Islam Film eines Rechtsextremisten.

Es war überall nur eine bedeutungslose Minderheit - in der 20 Millionenstadt Kairo keine 200 Leute, die Steine wurfen. Und denen ging es nicht nur um Religion.

Laut den Mainstream-Medien war jedoch die gesamte “islamische Welt” im Aufruhr. Die Mainstreammedien taten ihr Bestes, die gesamte Religion Islam mit allen Gläubigen als gewalttätige Extremisten zu verurteilen.

Über den Rechtsextremismus des Filmemachers redete dagegen kaum jemand.

Und die friedlichen Proteste, an denen viel mehr Leute teilnahmen (auch Christen) bekamen kaum Aufmerksamkeit. Für die Proteste mehrerer christlicher Bewegungen in Kairo gegen den Film interessierte sich auch kaum jemand. Dies obwohl die Proteste der Christen, so Bloggerin Zeinobia auf Egyptian Chronicles, viel wichtiger gewesen seien als alle die anderen. Die ägyptische orthodoxe Kirche in Alexandria, so Zeinobia weiter, war einer der ersten Institutionen, die den Film verurteilten.

Sind nicht die Journalisten, die solche Feindbilder über Muslime und diese Region verbreiten, schlimmer als die Steinewerfer, frage ich mich.

Denn, so schreibt Ingrid Thurner in ihrem Beitrag Unsere Mitschuld an den Krawallen:

Hierzulande ist es keine Minderheit, die zündelt, sondern mächtige Medien, die Hunderttausende erreichen, und täglich wird noch ein wenig zugelegt. Was bedeutet es für den sozialen Frieden im Lande, wenn die muslimische Bevölkerung regelmäßig in den Zeitungen liest, wie gewalttätig ihre Religion sei? Was bedeutet es für Gläubige, wenn das Recht eingefordert wird, sie und ihre Religion im Namen der Meinungsfreiheit beleidigen zu dürfen?

Zum Glück sind Islamverbände sensibler als manche Kommentare. Sie distanzierten sich und verurteilten die Gewaltakte, ebenso wie viele Politiker der Länder, in denen sie geschahen.

Bei den Protesten gegen Mohamed-Karikaturen, die ein französisches Blatt veröffentlichte, tauchten in Kairo nur 20 Leute auf, schreibt taz-Korrespondent Karim El-Gawhary in einem seiner stets wohltuend anders geschriebenen Texte. Die Einwohner Kairos verbrachten den Freitag lieber im Zoo:

Gleich neben der französischen Botschaft in Kairo befindet sich der gut besuchte Zoo. Gut hundert Schaulustige haben sich am Zaun versammelt, um die 20 Demonstranten zu beobachten. Einer der Schaulustigen meint: „Ich weiß nicht, was exotischer ist, die Tiere im Gehege oder die Demonstranten und die Kameramänner vor der Botschaft.“ Zumindest im Moment hat er beschlossen, den Tieren den Rücken zu kehren.

In einem früheren Beitrag auf Teilnehmende Medienbeobachtung thematisiert Ingrid Thurner eine andere Verallgemeinung: In “Neigen Österreicher eher zu Gewalt?” schreibt sie:

Sehr geehrter Herr Baltaci, sehr geehrte Redaktion,

ein einzelner Türke verübt eine Gräueltat, und die Presse fragt am 26. 5. 2012 “Neigen Türken eher zu Gewalt?”

Kann man von einem einzelnen Mann, der ausrastet, gleich Rückschlüsse ziehen auf alle Personen mit gleicher Nationalität, in diesem Falle gegen 75 Millionen Menschen? (…) Wieso kommt in Fällen, in denen österreichische Männer gewalttätig werden – und davon gab es in den letzten Jahren genug –, niemand auf die Idee zu fragen: „Neigen Österreicher eher zu Gewalt?“

Von Ingrid Thurner ist im vergangenen Jahr ein Text zum Thema Hassposten in Online-Foren. Diskursmuster und Diskursstrategien bei Islamthemen erschienen (leider nicht online). Zum Thema sind von ihr u.a. die Zeitungsbeiträge Alles ist erlaubt? Über das Hass-Posten (Die Presse, 25.11.2010) und Echtnamen schützen vor Bosheit nicht. Ein Plädoyer für die Beibehaltung der Anonymität in Internetforen (Der Standard, 23.8.2011) erschienen.

Für mehr Medienkritik siehe den Blog anders deutsch von Urmila Goel.

SIEHE AUCH:

Die Mythen über angebliche religiöse Gewalt in Kairo

Ethnologen: WM-Berichte verbreiten Vorurteile über Afrika

"Gewalt gehört zu Indien wie ein gut gewürztes Currygericht" - Ethnologe kritisiert SZ

Die "negroiden Lippen Obamas" - Ethnologe reagiert auf Rassismus in der Abendzeitung

In Norwegian TV: Indian tribe paid to go naked to appear more primitive

Why anthropologists should study news media

So hat Globalisierung unseren Mittagstisch verändert

von lorenz am Okt 21, 2012 in Globalisierung, Kultur Tradition, Deutschland, Oesterreich, Schweiz • Einen Kommentar hinterlassen »


Globalisierung: Was wäre Italien ohne Tomaten? Foto: Darwin Bell, flickr

Zerstört die Globalisierung unsere lokale Küche? Immer wieder kommt diese Frage auf. In einem Interview mit Spiegel Online erinnert Ethnologe Marin Trenk daran, dass die Globalisierung unserer Küche bereits vor mindestens 500 Jahren begonnen hat:

Kolumbus löste 1492 die erste von drei kulinarischen Globalisierungswellen aus, den zweiten Schub sehe ich in den kolonialen Begegnungen. Wir leben in der letzten Welle, die sehr intensiv und beschleunigt verläuft. Aber die Veränderung, die Kolumbus auslöste, war kulinarisch die größte Zäsur in der Weltgeschichte.

Die Anbaufrüchte der neuen Welt veränderten die regionalen Küchen der alten Welt vollständig: Was wäre Südostasien ohne Chili? Italien ohne Tomate, Ungarn ohne Paprika? Nach 1492 sah keine Küche der Welt mehr so aus wie davor. Nach Kolumbus haben sich etwa Kartoffel, Chili, Tomate oder Mais sehr erfolgreich durchgesetzt. Bemerkenswert ist aber, dass keine kompletten Gerichte gereist sind, sondern nur Rohprodukte.

Marin Trenk spricht auch von gegenwärtigen Trends in Deutschland. Japanisch ist in, ausserdem Fleisch “das nicht wie Fleisch schmeckt und auch nicht wie Fleisch aussieht".

Der Forscher von der Uni Frankfurt arbeitet übrigens derzeit an einem Buch zur “Kulinarischen Ethnografie Thailands”.

>> zum Interview im Spiegel

Er hat früher auch über das Verhältnis nordamerikanischer Indianer zum Alkohol geforscht. In einem Paper (pdf) erklärt er, dass Betrunkensein als eine Art ist, mit der Welt der Geister zu kommunizieren.

SIEHE AUCH:

Ernährung Identität Migration - Eine lange Diskussion im antropologi.info-Forum

Esskultur als Protest: Ethmundo über Ökodörfer und Müllwühler

Anthropologists find out why we (don’t) buy organic food

What anthropologists can do about the decline in world food supply

Wenn Kinder als Hexen verfolgt werden: Was meint die Ethnologie?

von lorenz am Okt 10, 2012 in Afrika, Jugend, Bücher, Konflikt Gewalt • 2 Kommentare »

  • Als “Hexenkind” verfolgt und misshandelt (Kleine Zeitung, 16.1.2012)
  • Die Hexenkinder von Nigeria: Priester und Scharlatane bereiten Jungen und Mädchen die Hölle auf Erden (Die Welt, 11.9.2010)

Immer wieder macht das Thema “Hexenkinder” Schlagzeilen in den Medien. Doch was haben Ethnologen und Ethnologinnen dazu zu sagen? Bisher recht wenig. Ethnologe Felix Riedel hat sich eines der wenigen Bücher zu diesem Thema angeschaut und stellt es hier auf antropologi.info vor: The Devil’s Children. From Spirit Possession to Witchcraft: New Allegations that affect Children von Jean La Fontaine.


Rezension

LaFontaine (Hg.) 2009: The Devil’s Children. From Spirit Possession to Witchcraft: New Allegations that affect Children. Farnham, Surrey: Ashgate Publishing Limited.

Von Felix Riedel, MA Ethnologie

Die Viktimisierung von Kindern durch Hexereianklagen hat in den letzten Jahren starkes Interesse der Öffentlichkeit erfahren. Ein Auslöser dafür war die britische Dokumentation des Senders Channel 4 mit dem Titel Saving Africa’s witch-children. Das Porträt eines nigerianischen Asyls für Kinder, die von ihren Eltern, Stiefeltern, Verwandten, Priestern oder Nachbarn der Hexerei beschuldigt und misshandelt wurden, stieß eine gesellschaftliche Debatte in Nigeria an. Die vergleichbare Situation in der Demokratischen Republik Kongo wurde in ähnlichen Dokumentarfilmen belegt.

In Diskrepanz zum journalistischen Interesse steht das Schweigen der Ethnologie. Lediglich Robert Brain (1970), Peter Geschiere (1980) und Filip DeBoeck (2003; 2004; 2005) haben bislang fundierte Daten gesammelt und diskutiert, zwei neuere Studien aus Ghana erschienen nach 2009. Eine Reihe von Arbeiten aus dem Umfeld humanitärer Organisationen rezitiert im Wesentlichen die journalistischen Quellen.

Der von Jean LaFontaine herausgelegte Sammelband betritt daher ein weitgehend brach liegendes Feld.

Die Publikation richtet sich in der Konsequenz nicht primär an ein wissenschaftliches Fachpublikum, sondern an soziale Arbeit, therapeutisches Personal, Polizisten und Kirchen. Zwei Drittel der Texte im Sammelband leisten ausschließlich Vorarbeit zu einem Verständnis von Geistbesessenheit in unterschiedlichen kulturellen Bezügen.

Eine hervorragende Zusammenfassung der psychiatrischen Problematik liefert Roland Littlewood. Seine Gegenüberstellung von Geistbesessenheit und suizidaler Überdosierung von Medikamenten eröffnet einen praktikablen Weg, das Verhältnis von agency und Symptom bei weiblichen Besessenheitskulten in aller gebotenen Unschärfe neu zu bestimmen:

„The distinction may be difficult to draw. As with overdoses, when do ‚symptoms’ become ‚strategies’?“ (33)

Littlewood fordert eine erhöhte Sensibilität der Therapeuten für kulturelle Belange sowie die partielle Integration von kulturspezifischen Laien-Therapeuten ein. Die psychiatrische Therapie will er durch diese Offenheit im Interesse des Patienten stärken und beibehalten.

buch cover

Sherrill Mulhern evaluiert in einem weiteren exzellenten Text für den europäischen Kontext alternierende Schwankungen in den Körper-Geist-Konzeptionen.

Ausgangspunkt ist der Wandel von der hochmittelalterlichen Lehrmeinung über Hexereigeständnisse und Somnambulismus zu den fundamental differenten Anschauungen des 14ten Jahrhunderts. (38ff) Erst diese interpretierten halluzinierte Geständnisse als empirisches Zeugnis einer nächtlichen Reise und Teufelsbuhlschaft.

Diesen Wandel parallelisiert sie mit dem aktuellen charismatisch-christlichen Postulat, Geständnisse und Visionen seien empirische Manifestationen göttlicher Wahrheiten und ermöglichten spirituelle Ätiologien. Während die Exzesse der katholischen Kirche letztlich die Entwicklung von alternativen psychologischen Konzepten provoziert hätten, würde die charismatische Bewegung die Therapie aus der säkularen Psychotherapie in die Dämonologie der deliverance zurück überführen. (46)

In einer bisweilen zu glatten, rasanten Erzählung problematisiert sie die Wiederkehr des Geständnisproblems in der Psychotherapie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Unter dem Druck feministischer Positionen sei die analytische Annahme einer subjektiven, psychologischen Wahrheit für Inzestfälle in den Verdacht der Vertuschung von realen Verbrechen geraten.

Die bis heute andauernde Strömung fordert gegen das rechtsstaatliche Prinzip der Nachweisbarkeit und in Verleugnung der Möglichkeit der Konfabulation eine prüfungslose Anerkennung jeglicher Opfererzählungen. Als Resultat der Diskursschwankungen seien erstaunlich weit verbreitete Phantasien über satanistische Rituale bis hin zum Kannibalismus als glaubhafte kindliche Erinnerungen von Patienten und Therapeuten verteidigt worden. (54) Mulherns historische Analyse verweist in einer neuen Dringlichkeit auf die Komplexität und Reichweite des Problems der Nichtidentität von Geist und Körper.

Die Integration von emischen Perspektiven versucht der Band im dritten Teil. Christina Harringtons Beitrag idealisiert in einem kurzen Beitrag ihre Wicca-Initiation. Mercy Magbagbeolas Beschreibung ihrer christlichen Hexereivorstellungen sind als illustrative ethnographische Quelle wertvoll, werden in dieser Form aber unnötig aufgewertet.

Erst das letzte Drittel des Buches widmet sich explizit Kindern als Opfer von Hexereianklagen.

LaFontaine fasst die wenigen bestehenden ethnographischen Texte zusammen und leistet so die Vorarbeit zum einzigen ethnographischen Beitrag von Filip DeBoeck. Dieser liefert eine geringfügig aktualisierte Durchführung seiner älteren Texte, in denen er konzise die Verhältnisse in der DRC beschreibt und diskutiert.

Leider besteht er immer noch auf einer euphemistischen Definition der Heilung: Der mitunter wochenlange Exorzismus von Kindern in den Kirchen biete als therapeutic ‚healing’ space eine „alternative Lösung des Problems“ an. (131)

DeBoeck entgleitet hier die Sensibilität für die komplexere infantile Psychodynamik, schlüssig wird der therapeutische Aspekt nicht. Das Trauma des Exorzismus wird nicht weiter erörtert, die Reintegration ins verfolgende Kollektiv wird mit Heilung gleichgesetzt. Auch wiederholt er die populäre Hypothese, Hexereianklagen könnten als a posteriori birth control gelten: Kinder würden primär aus ökonomischen Gründen verstoßen.

Materialistische Ansätze dieser Art erklären nicht, warum die okkulte Rechtfertigung der ökonomischen vorgezogen wird.

Stichhaltiger ist seine Beobachtung über Neuformierungen der Kernfamilie gegen die erweiterte Verwandtschaft mit ihren Ansprüchen. Aber auch hier fehlt die Vermittlung durch die individuelle Psychodynamik und die Ideologieform, in der diese Abgrenzung als okkultes Ressentiment gewählt und ausformuliert wird.

In einer für das Forschungsfeld üblichen Umkehr werden die Verfolger von Kindern zu Opfern einer spirituellen Unsicherheit, einer Krise der Verwandtschaft. Die Krise der kindlichen Opfer von Hexereianklagen tritt dann nur noch als sekundärer Effekt einer anderen Krise in Erscheinung.

Das letzte Kapitel wird im Wesentlichen von Eleanor Stobart gerettet durch eine empirische Studie über Fälle von Kindesmisshandlung mit assoziierten Hexereianklagen in Großbritannien.

Die breite Zielgruppe des Bandes resultiert in einem Relativismus, der Kritik unterbindet. So behauptet Eileen Barker in der Einleitung:

„The social sciences have to recognise their limitations, however. They have no expertise, technologies or skills that allow them to judge theological or ethical claims.” (3)

Dieser Widerruf wissenschaftlicher Erkenntnis richtet sich gegen philosophische Betätigung als Vermittlung zwischen dem aktuellen Stand der Aufklärung und dem dahinter zurückfallenden gesellschaftlichen Bewusstein. Der den Sozialwissenschaften aufoktroyierte „wissenschaftliche Agnostizismus“ (3) tendiert dazu, analytische Kritik und interdisziplinäres Denken stillzulegen.

So richtig die Kritik am „nothing but“ der psychologistischen oder materialistischen Ansätze ist, so reduktionistisch ist die Aufgabe des Versuches der dialektischen Darstellung zugunsten einer urteilsfreien Beschreibung, die weder naturwissenschaftlichen noch philosophischen Ansprüchen gerecht wird.

Der Eindruck der Beliebigkeit wird komplett, wenn Barker wenig später das Urteil über spezifische Vorurteile doch wieder einführt: Als berechtigten Verweis auf „ignorance“ und „misinformation“ der westlichen Gesellschaften gegenüber den Vorstellungen der Minoritäten (4).

Die dialektische Spannung zwischen Materialismus und Psychologismus, Gesellschaft und Individuum kann der Band nicht aushalten. Er beinhaltet einige Aufsätze von hervorragender Qualität und leistet auch Pionierarbeit für die Praxis mit viktimisierten Kindern. So erfreulich dieser seltene praxisbezogene Ansatz ist, die Desiderate des Feldes „Kinder und Hexenjagden“ können die Beiträge leider nur partiell schließen.

Felix Riedel, MA Ethnologie
Marburg, Deutschland
Kontakt: Felix.Riedel.Uni (AT) googlemail.com


MEHR INFORMATIONEN:

Information vom Verlag

Einführungskapitel des Buches (pdf)

Felix Riedel: Hexenjagden in Nordghana (Teil seines Projektes “Hilfe für Hexenjagdflüchtlinge Ein Verein zur Unterstützung der Asyle für Hexenjagdflüchtlinge in Ghana”)

Jean La Fontaine: Witchcraft belief is a curse on Africa (Guardian 1.3.12)

Eleanor Stobart: Race bias claim over witchcraft “The government’s response to child abuse linked to witchcraft would have been different if it involved mainly white children” (BBC, 4.8.2006)

Die Kinderhexen von Kinshasa. Zum Wandel von Hexereivorstellungen in der Demokratischen Republik Kongo Magisterarbeit in Ethnologie von Katharina Puvogel an der Uni Münster (pdf)

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Book review: Witchcraft in South Africa

Kontroverser Ethnologe David Signer: Die Stagnation schwarzafrikanischer Staaten hat einen Grund: Hexerei

World Cup Witchcraft: European Teams Turn to Magic for Aid

Ist verständliche Sprache unwissenschaftlich?

von lorenz am Okt 5, 2012 in Ethnologie allgemein, Wissensvermittlung, Sprache • Einen Kommentar hinterlassen »

Warum nicht nach so langer Stille mit einer positiven Nachricht beginnen? In den Schweizer Medien wurde nämlich Kritik am trockenen, umständlichen Wissenschaftsjargon laut. Sehr gut!

In der alles anderen als radikalen NZZ schreibt Markus Häfliger:

An Unis ist eine bizarre Kultur verbreitet: Akademische Texte werden oft bemängelt, wenn sie komplizierte Sachverhalte einfach erklären. Vor allem in Dissertationen und Habilitationsschriften gibt es einen Zwang zur Kompliziertheit. Akademisch belohnt wird, wer monströse Formulierungen und viel Fachjargon verwendet. Welche Blüten dieses System treibt, erlebte eine Anthropologie-Studentin unlängst an der Universität Freiburg. Die Frau, die nebenher als Journalistin arbeitete, wurde vom Professor dafür kritisiert, dass sie in Seminararbeiten zu kurze Sätze formuliere.

Wir können da einiges von den USA lernen, meint er:

Wie anders gehen amerikanische Hochschulen mit der Sprache um. Dort gehört Rhetorik teilweise zum Pflichtstoff. Schon College-Studenten üben sich in sogenannten Elevator Speeches. Dabei erhält der Student für ein Kurzreferat so lange Zeit, wie eine Fahrt im Aufzug dauert. Das muss genügen, um dem Publikum seinen Gedanken zu präsentieren.

Wo in der Schweiz werden solche Fähigkeiten trainiert? Die Auswirkungen dieses unterschiedlichen Verhältnisses zur Sprache lassen sich an jedem Kiosk erkennen. Sachbücher amerikanischer Wissenschafter werden zu Bestsellern, während Sachbücher schweizerischer Wissenschafter in Bibliotheken verstauben.

>>weiter in der NZZ

Typischerweise ist Markus Häfliger nicht Teil des akademischen Etablissements, sondern Journalist (und ehemaliger Student).

Doch dass diese Kritik vonnöten ist, dürfte keine kontroversielle Aussage sein. Das Problem dürfte an deutschen Unis noch grösser sein. Ich habe sowohl an deutschen Unis wie auch an einer Schweizer Uni (Uni Basel) studiert und empfand Schweizer AkademikerInnen als weniger förmlich (mündlich und schriftlich) als deutsche. Dennoch widerfuhr mir ähnliches wie der oben erwähnten Studentin. U.a. das Einleitungskapitel meiner Feldforschungsarbeit über HipHop “Sein Ding machen” wurde kritisiert. Der Schreibstil sei “zu journalistisch”….

Der NZZ-Artikel hat nur mässige Resonanz bekommen. Eine interessante Diskussion hat Ali Arbia auf zoon politikon angeleiert. Er verteidigt die komplizierte Fachsprache und bekam gute Antworten im Kommentarfeld. Dort ist auch ein Link zu einem Text von Physiker Florian Aigner, der positive Beispiele der Wissenskommunikation aus England und anderen Ländern liefert.

Vor ein paar Monaten ist übrigens eine akademische Zeitschrift ins Leben gerufen wurde, die dem akademischen Jargon den Kampf ansagt - siehe früherer Beitrag Journal of Business Anthropology: Open Access and “Without Jargon”.

Übrigens: Auf seinem Blog Kulturelle Welten informiert uns Joern Borchert über die Konferenz “Rezensieren – Kommentieren – Bloggen: Wie kommunizieren Geisteswissenschaftler in der digitalen Zukunft?”, die vom 31.1. bis 1.2.2013 in München stattfindet - gratis!

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Six reasons for bad academic writing

Thomas Hylland Eriksen (Savage Minds): What is good anthropological writing?

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